Schule als Institution
von Maria-Margareta Weitzig, Bremen
Das Wort „Schule“ stammt aus dem Griechischen und meint ursprünglich „Muße“ oder „Freie Zeit“. Die Griechen wollten damit wohl ausdrücken, dass sich Bildung vor allem in Ruhe ereignet, also in einem Zustand, der einem die Möglichkeit gibt, etwas zu tun, was einem im Leben weiterhilft. Die schulische Bildung war im Mittelalter vornehmlich Angelegenheit der Kirche, erst mit der Aufklärung wurde eine Bildung für alle gefordert, Arbeiterkinder, Landbevölkerung und Mädchen miteinbeziehend. In Preußen wurde im Jahre 1723 die allgemeine Schulpflicht eingeführt, als letztes deutsches Land schloss sich dem 1870 Hamburg an. Eltern mussten aber für den Schulbesuch ihrer Kinder zahlen, erst in der Weimarer Republik wurde das Schulgeld für die Volksschule abgeschafft, während es für den Besuch von Gymnasien noch bis Ende der fünfziger Jahre erhoben wurde. Im Jahre 1920 beschloss der Deutsche Reichstag die vierjährige Grundschule. Heute umfasst die Grundschule in fast allen Bundesländern die Klassen 1 – 4, in Berlin und Brandenburg zählen auch die Klassen 5 und 6 zum Primarbereich.[1]
Im Verlauf der Geschichte wurden sehr kleine Kinder als primitive Wesen betrachtet, die physischer Fürsorge bedurften, über deren Bedeutung – außer für die Kontinuität menschlichen Lebens – man sich jedoch wenig Gedanken machte. Im westlich-abendländischen Kulturbereich hatte unter anderem die traditionelle christliche Betonung der sündhaften Natur des Menschen und der Notwendigkeit der Kindertaufe zu ihrer Rettung zuvor zu einem Umgang mit Kindern geführt, für den strenge Kontrolle und Manipulation bezeichnend waren. Erst im Zeitalter der Aufklärung vertrat der französische Philosoph J.J. Roussseau (1712-1778) eine entgegengesetzte Auffassung, dass nämlich Kinder ihrem Wesen nach gut seien und lediglich von den Vergiftungen der Zivilisation ferngehalten werden müssten, damit ihr wahres Wesen zutage treten könne. Aus seinen Werken „Emile“ und „Contrat social“ geht hervor, dass die untrennbare Einheit von sozialer Gemeinschaft und einer subjektorientierten Erziehung und Bildung aller ihrer Mitglieder besteht. Diese Einheit steht für mich als Basis der gesellschaftlichen und pädagogischen Bewegung, die man als „Integrative Erziehung“ bezeichnen und als kulturbildenden Prozess verstehen kann.
Mit dem Beginn der industriellen Revolution begann sich graduell auch
die Aufmerksamkeit auf den wirklichen Status der Kindheit durchzusetzen.
Mit ihr kam das Bewusstsein von dem Wert und der Würde des einzelnen
auf, und die Einsicht in die Notwendigkeit, die individuellen Anlagen jeden
Kindes zu fördern und zu festigen, damit ihm ein selbstbestimmtes,
verantwortungsvolles Leben möglich ist. Eine neue Beziehungswirklichkeit
schufen Pestalozzi in seinem Waisenhaus in Stans, Wichern im Rauhen Haus,
Bosco im Turiner Oratorium und Korczak
im Warschauer Waisenhaus Dom Sierot. In allen Fällen handelt es sich
um sozialpädagogische Einrichtungen, in denen Zöglinge ganztägig
betreut und pädagogisch geführt werden mussten, was auch dazu
führte, pädagogische Beziehungen genauer zu studieren. Die nachhaltige
Veränderung lag darin, dass das Kind in diesem Verhältnis einen
neuen Stellenwert als Subjekt erhielt.
Bereits Freud
(1910 S.62 f.) war der Meinung, die Schule werde ihren Aufgaben nicht gerecht.
Die Schule, so sagte er, soll den Schülern
„...Lust zum Leben machen und ihnen Stütze und Anhalt bieten in einer Lebenszeit, da sie durch die Bedingungen ihrer Entwicklung genötigt werden, ihren Zusammenhalt mit ihrem elterlichen Haus und ihrer Familie zu lockern. Es scheint mir unbestreitbar, dass sie dies nicht tut, und dass sie in vielen Punkten hinter ihrer Aufgabe zurückbleibt...“.
Diese Mängel können wir noch heute in unseren Schulen antreffen. Freud wies ferner auf die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen im schulischen Raum hin. Das Interesse an der Per son des Lehrers sei häufig stärker als das an der Sache. Deswegen lernten viele Schüler des Lehrers wegen. Andere aber würden die Mitarbeit verweigern, weil sie ein gestörtes Verhältnis zum Lehrer hätten. Nur wenige Lehrer seien in der Lage, dieses zu erkennen. Mit der Liebe und dem Hass, den die Schüler auf die Lehrer würfen, seien häufig, so glaubte Freud, nicht diese, sondern ihre eigenen Eltern gemeint. Die Schüler handelten oft nach dem Mechanismus der Übertragung.
In den 20er Jahren gab es im Schul- und Erziehungswesen zahlreiche fortschrittliche Bestrebungen. Maria Montessori, die eine Zeitlang in Kontakt mit Anna Freud stand, trug mit neuen Ideen zur Entwicklung der Erziehung in Kindergärten und Grundschulen bei. Sie stellte die Bedürfnisse und Interessen des einzelnen Kindes in den Mittelpunkt des Unterrichts. Die freie Wahl der Arbeit war ihr grundlegendes Unterrichtsprinzip. Das Kind kann aus dem Materialangebot frei wählen und bestimmen, wie lange, wie oft und mit wem es arbeiten möchte. Der Lehrer unterstützt dabei das Kind auf seinem Weg zur Persönlichkeitsentfaltung. Die richtige Darbietung des Materials zum richtigen Zeitpunkt ist eine seiner wichtigsten Aufgaben. Anstoß zum Lernen ist die Neugierde der Kinder (Montessori 1952).
Beschäftigt man sich mit dem Werk des Psychologen Erik Erikson
zeigt sich, dass eine große Rolle bei ihm das Postulat einer
Entsprechung zwischen der seelischen Entwicklung des Kindes und den Einrichtungen
der Gesellschaft spielt. Über die Bedeutung der Schule für die
Identitätsbildung erfährt man aber nichts, obwohl er sich
zusammen mit Anna Freud in den 20er Jahren für eine Privatschule im
psychoanalytischen Geist in Wien bemüht hatte (Erikson 1961). Der
größte Teil der psychoanalytischen Literatur, der überhaupt
Fragen aus dem Bereich Schule berührt, beschäftigt sich mit Verhaltensstörungen,
Lernstörungen, Schulverweigerung etc.. Zum Verständnis der Schule
als Institution wird wenig beigetragen, es werden im Rahmen der Kinderpsychotherapie
individuelle Vorgeschichten mit krankheitsverursachenden Faktoren und deren
Verarbeitung aufgedeckt.
Den Aspekt der Vereinnahmung von Schule durch Einbindung in neu formierte
Machtkonstellationen hat Michel Foucault
(1977) als (seit Mitte des 18. Jahrhunderts feststellbare) Genealogie der
Schule als >Disziplinaranlage< aus der früheren Ständeschule
historisch analysiert. Seiner Konzeption nach war damit eine grundlegende
Änderung des Verhältnisses zur gesellschaftlichen Macht verbunden.
Während in absolutistischen Zeiten die >Macht des Souveräns<
direkt und von außen auf die Institutionen einwirkte, war dies mit
der Durchsetzung bürgerlich-demokratischer Lebensverhältnisse
so nicht mehr möglich, da nun das Volk zum Souverän erklärt
und die formale Gleichheit aller vor dem Gesetz deklariert wurde,
in dieser Weise nicht mehr möglich; so bildeten sich Machtstrukturen
heraus, durch welche in den Institutionen quasi selbsttätig Ungleichheiten
produziert und reproduziert wurden. Dies nach Foucault mittels der internen
>Machtökonomie der Disziplinaranlagen<. Er charakterisiert sie
als strategische Zu-rüstungen zur Kontrolle ohne direkte Machteinwirkung,
was für ihn dadurch möglich wird, dass die Strategien quasi durch
die Betroffenen hindurch wirken, d. h. jeder im naheliegenden Interesse
die Kontrolle hinnimmt oder sich daran beteiligt, damit aber gleichzeitig
jene disziplinären Kontrollmechanismen aufrecht erhält, denen
er wiederum selbst unterworfen ist.
Aufgrund der strukturellen Gegebenheiten sind gelegentlich Parallelen
gezogen worden zwischen Schulen und Dienstleistungsorganisationen, die
ihre Klienten in ähnlicher Weise mehr oder weniger zwanghaft und total
vereinnahmen: also im Sinne Goffmans
(1973) „Totale Institutionen“ wie psychiatrische Kliniken, Gefängnisse
oder Kasernen. Der größte Teil der Definitionsmerkmale (vgl.
ebenda S.17) einer „totalen Institution“ trifft auch für die Schule
zu. Staatliches Handeln ist notwendigerweise auf Wirksamkeit angelegt,
d. h. die Aneignung von Wissen ist oberstes Prinzip. Zur Erreichung des
Organisationsziels werden Handlungsabläufe nominiert und komplexe,
nicht hinterfragbare Regel- und Kontrollsysteme entwickelt, die von Funktionären
(Schulleiter, Lehrer, Hausmeister) überwacht werden. Die hierarchischen
und erzwungenen Kommunikationsstrukturen führen zur Unterdrückung
der Identität und zur Einübung systemkonformer Verhaltensweisen,
so dass affektive interpersonale Beziehungen und spezielle persönliche
Qualitäten nicht mehr entwickelt werden können. Lernprozesse
richten sich in erster Linie auf die Möglichkeiten des Überlebens
( bzw. im Fall Schule des Erfolgs) in der vorgefundenen Institution. Die
Schüler lernen primär wie man sich zu verhalten hat, um Belohnungen
zu erleben und Strafen zu vermeiden. Allein außerschulische Erfahrungen
und Einflüsse und die tatsächliche Komplexität von Interaktionsstrukturen
unterscheiden Schule m. E. von „totalen Institutionen“ im Sinne Goffmans,
somit klärt der Vergleich nur tendenziell Prägungseffekte
der Schule.
Der Soziologe Fritz Schütze (1994)
teilt die Auffassung, dass die Qualität einer einzelnen Schule in
bisher unterschätztem Ausmaß von ihrem fallspezifischen soziokulturellen
Binnenmillieu und der ebensolchen Einbettung in die jeweilige Ortsgesellschaft
abhängt. Nach Schütze hat man in den letzten Jahren die Dynamik
kleiner, lokal begrenzter Reformbewegungen und deren Gestaltung von Milieus
und sich entfaltende Innovationswirkungen unterschätzt.
Bernd Ahrbeck (1998) zeigt am Beispiel der schulischen
Notengebung auf, dass sie nicht unwesentlich aus konfliktvermeidenden,
am narzisstischen Wachstum interessierten Erziehungskonzepten resultieren,
die seit vielen Jahren verbreitet sind. Zeitmangel für die Berücksichtigung
intrapsychischer Vorgänge führt er auf ein „gesteigertes Lebenstempo“
als Ausdruck zeittypischen Lebens zurück.
Das sich durch Konkurrenz abzeichnende Leistungsprinzip bewirkt Feindschaft
und Intoleranz, während hingegen Werte wie Nächstenliebe und
Duldsamkeit verlangt werden. Triebregungen werden sowohl bei Schülern
als auch Lehrern abgewehrt. Einer der Pioniere der Psychoanalytischen Pädagogik,
Siegfried Bernfeld, bezeichnet Sinn und Funktion der Pädagogik als
Rationalisierung der Erziehung (Bernfeld
1925, S. 15). Als psychische Reaktionsbildung eigne sich diese zeitgenössische
Pädagogik allerdings sehr gut für Zwecke der Anpassung
an die sozialen und ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft:
„Die Pädagogik, wie sie ist, entspringt einer Reihe von psychischen und sozialen Bedingungen, die in unserer, in der Zeit der unwissenschaftlichen Pädagogik, gegeben sind, sie ist ein Instrument gewisser sozialer und psychischer Tendenzen unserer Gesellschaft und der in ihr lebenden Menschen. Sie ist ein taugliches Instrument gerade durch ihre Mängel“ (ebenda, S. 46).
Das Wesen organisierter Pädagogik erschließt sich für
Bernfeld als „Initiationsritus“, mit diesem Konzept interpretiert er den
„heimlichen Lehrplan“ der Schule. Am Initiationskomplex sei es nicht weiter
problematisch, dass er im Drama der Ablösung von der Familie durch
die Schule zur Wirkung kommt, sondern dass er unbewusst bleibt. Die künstliche
Organisation schulischer Bildung und Erziehung verdrängt die natürliche
in der Familie, ohne zu klären, wie sich dadurch das affektive Erleben
aller Betroffenen in einem neuen künstlichen System verändert.
Für Bernfeld wird dadurch die „Aggressionsorgie“ (vergl. ebenda S.64f)
als unbewusster Komplex wirksam. Bernfelds Überlegungen zur psychoanalytischen
Pädagogik der Schule enden folgerichtig in einer Gesellschaftssatire,
in welcher er die verkehrte Welt der Schule, also eine Welt der psychischen
Spaltung, der Verdrängung, der Wiederholungszwänge und der falschen
Strukturbildungen in der Adoleszenz wie in einem Spiegel ironisch vorführt.
Dagegen soll nach Freud (1911, S.235f.) die Erziehung eindeutig in
den Dienst einer gelingenden Persönlichkeitsentwicklung gestellt werden,
die das Entstehen von Neurosen oder anderen psychischen Krankheiten verhindert.
Sie ist eine „Nachhilfe“ die dazu dient, das Lustprinzip durch das Realitätsprinzip
zu ergänzen und auf diese Weise jenes durch dieses zu sichern.
Das Ziel der Pädagogik, das Realitätsprinzip durchzusetzen, kann durch die analytische Methode flexibler gestaltet werden, da psychoanalytisch orientierte Pädagogik das singuläre Subjekt im Blick hat. Dabei geht es nicht um Aussagen über allgemeine menschliche Verhaltensgesetzmäßigkeiten, sondern um das Eigene, welches individuell-lebensgeschichtlich gewachsen ist. Dieses Eigene entsteht immer im Zusammenhang mit der individuellen Lebensgeschichte, der mehr und mehr ein unverwechselbarer, persönlicher Sinn zukommt.
Bittner (1986) argumentiert, das die gegenwärtige Pädagogik
über kein gültiges Menschenbild mehr verfüge, welches aber
für die Möglichkeit pädagogischen Handelns eine unumgängliche
Voraussetzung darstelle.
Ein solches könne sie jedoch nur von der Psychoanalyse beziehen.
Psychoanalyse tritt dabei als Zubringer der Handlungskompetenz für
Pädagogen auf.[.....].
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