Internet Publikation für
Allgemeine und Integrative Psychotherapie
(ISSN 1430-6972)
IP-GIPTDAS=30.04.2001
Internet-Erstausgabe, letzte Änderung: 30.05.17
Impressum:
Diplom-PsychologInnen Irmgard Rathsmann-Sponsel und Dr. phil. Rudolf Sponsel
Stubenlohstr.
20 D-91052 Erlangen E-Mail: sekretariat@sgipt.org
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Praktikumbericht 01_Überblick_Rel.
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Der nackte Kaiser
von Wulf Mirko Weinreich aus Leipzig
__Vorwort__Intro__Entmündigung__Der rote Faden __Gruppenstunde__Gefühle__Nähe__Abstand__Effektivität __Extro__Nachwort__Zur Person __Evtl. Diskussionsmöglichkeiten
"Die Behandlung
des Anderen als Sache macht uns selbst zur Sache und dies wirkt als Selbstzerstörung"
(Victor
v. Weizäcker)
Im folgenden Artikel versuche ich meine eigenen - erschütternden -
Erfahrungen während eines Praktikums im Rahmen meines Psychologie-Studiums
in einer ganz normalen klinischen, tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie
zu beschreiben. Dies geschieht vor dem Hintergrund meiner ca 18-jährigen
Erfahrung (ich bin jetzt 42) als Klient, Assistent und Co-Therapeut, in
denen ich die unterschiedlichsten Ansätze der Psychotherapie kennenlernen
konnte, von klassisch analytischer Therapie über körperorientierte
und systemische Verfahren bis hin zur transpersonalen Psychologie.
Ich verbürge
mich für alle in diesem Artikel beschriebenen Szenen einschließlich
dem sinngemäßen Inhalt der Aussagen - zum größten
Teil werden Redewendungen wörtlich wiedergegeben. Die Szenen entstammen
Gedächtnisprotokollen, die sofort nach den Sitzungen angefertigt wurden.
Ich habe mir lediglich erlaubt, die Szenen zu verdichten. Um die Anzahl
der Personen überschaubar zu halten, wurden die Bemerkungen mehrerer
Personen den Protagonisten in den Mund gelegt - so kann ich auch sicher
sein, daß sowohl Therapeuten als auch Klienten keine Ähnlichkeit
mit irgendwelchen lebenden Person haben.
Es ist mir
bewußt, daß durch diese Verdichtung ein überzeichnetes
Bild entstanden ist, jedoch ist es dadurch nicht unwahr geworden, sondern
zeigt umso deutlicher, wie hier gearbeitet wird, welche Prinzipien hier
wirken. Für mich allein hätte es sicher gereicht, diesen Artikel
nur in Tagebuchform und unveröffentlicht zu lassen. Immerhin hatte
ich ja, von einem etwas problematischem Start abgesehen, ein angenehmes
Praktikum - wenig Arbeit, freundliche Therapeuten - wenn da nicht dauernd
meine eigene Betroffenheit gewesen wäre und das Gefühl, auch
als Zuschauer verantwortlich zu sein. Wenn dieser Artikel dazu beitragen
könnte, in der Öffentlichkeit sowie auch in Fachkreisen stärker
über Schulen, Institutionen und Qualitätsstandards der klinischen
Psychotherapie zu diskutieren, hätte er sein Ziel erreicht.
Das Krankenhaus liegt inmitten der Stadt, viele einzelne Gebäude,
eingebettet in eine grüne Insel. Ein ganz normales, durchschnittliches
Krankenhaus irgendwo in Deutschland, gleichzeitig Ausbildungskrankenhaus
für die dortige Universität. Neben den Stationen für körperliche
Leiden gibt es auch einen großen Bereich für psychische Erkrankungen.
In der Station für Psychotherapie werde ich von einer jungen Therapeutin
empfangen. Sie, wie auch ihr Kollege, sind beide Anfang 30. Weiterhin gehört
zur Station noch der Oberarzt, der für die Patienten jedoch eher selten
in Erscheinung tritt, sowie mehrere Krankenschwestern.
Natürlich steckt die Therapeutin in der Klemme: Erwartet hat sie einen
Studenten Anfang 20, der außer dem Studium noch keine Berufserfahrung
hat - statt dessen kommt jemand, der älter ist als sie und schon ziemlich
viel kennengelernt hat, von Bioenergetik bis Familienaufstellung, von Gestalttherapie
bis Fisher-Hoffman-Prozeß. Sie wählt den einfachsten Weg, den
Weg der Macht: "Herr W., ich bin hier Therapeutin und Sie sind Praktikant.
Ich habe hier die Verantwortung und ich bin an Kommentaren oder Ratschlägen
ihrerseits nicht interessiert. Sie werden diese zwei Monate als Zuschauer
außerhalb der Prozesse verbringen - am liebsten würde ich sie
hinter eine Einwegscheibe setzen. Außerdem möchte ich keine
Gespräche zwischen ihnen und den Gruppenmitgliedern." Im gutwilligsten
Falle könnte man die Weisung in Bezug auf die Gruppengespräche
noch mit dem Setting der Therapieform erklären - in Bezug auf Bewegungs-
und Gestaltungstherapie wirkt sie völlig hahnebüchen. Einige
Tage später wird der Oberarzt diese Maßnahmen absurderweise
noch mit der Abstinenzregel begründen.
Ich sage der Therapeutin deutlich, daß ich eigentlich nicht vorhatte,
sie zu verunsichern und auch Wert darauf lege, eine Unterstützung
für sie und den Gruppenprozeß zu sein - in erster Linie will
ich ja was neues kennenlernen. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch
nicht, was Hierarchien im Krankenhaus bedeuten, welche neurotischen Potentiale
trotz aller Humanisierung in den letzten 50 Jahren allein in diesen Strukturen
begründet sind. Ich weiß noch nicht, wie sehr sich Oberärzte,
Ärzte, Psychologen und Schwestern voneinander abgrenzen und erst recht
von den (in ihren Augen) "Kranken". Ich lebe noch in der Erfahrung der
humanistischen Gruppentherapien, wo wirklich im Team gearbeitet wird, wo
Therapeuten, Co-Therapeuten und Assistenten sich gegenseitig ihre Beobachtungen
und Vorschläge mitteilen, wo Therapeuten und Klienten zusammenarbeiten
als gleichwertige Menschen, die lediglich an unterschiedlichen Punkten
ihres Lebens stehen. Doch der wesentlichste Unterschied dürfte sein:
Alle diese Therapeuten haben selbst jahrelang therapeutisch an sich gearbeitet,
kennen viele dunkle Räume der Seele aus eigener Erfahrung und wissen
daher genau, wovon ihre Klienten sprechen, was sie fühlen und erleben.
Natürlich bin ich erst einmal enttäuscht: Es fühlt sich
nicht gut an, den ganzen Tag in der Ecke zu stehen - Entschuldigung:
zu sitzen - und zum Schweigen verurteilt zu sein. Doch es hilft mir, wenn
ich mir bewußt mache, daß diese Maßnahme nicht gegen
mich persönlich gerichtet ist, sondern aus der Unsicherheit resultiert.
Und so will es die Ironie des Schicksals, daß eine Etage tiefer,
auf einer anderen Station, eine meiner jungen Mitstudentinnen Therapiesitzungen
leiten und Patientenakten bearbeiten darf, während ich für 2
Monate zum Zuschauen und Schweigen verdonnert bin. Zwei Tage bin ich am
überlegen, ob ich das Praktikum hier nicht lieber abbrechen und statt
dessen zu einem befreundeten Psychologen gehen soll. Doch immerhin bin
ich ja hierher gekommen, weil ich mal was anderes kennenlernen wollte und
so beschließe ich, die Herausforderung anzunehmen: zwei Monate Supervision,
beobachten können, ohne verwickelt zu sein, durch Zuschauen lernen,
was ich will und vor allem, was ich nicht will. Am Ende des Praktikums
wird sich die Therapeutin dafür entschuldigen, daß es hier nun
mal leider nicht möglich sei, die Praktikanten besser einzubinden
und ich werde wissen, daß es meinem Vorgänger auch nicht anders
erging.
Der Tag beginnt um 7.30 Uhr mit der konzentrativen Entspannung, einer sehr sanften Form der Körperwahrnehmung. Es gibt immer wieder Probleme mit Patienten, die gleich nach dem Aufstehen noch zu müde sind für diese Therapie und denen ein paar Kniebeugen sicher besser bekommen würden. Eine Befreiung davon ist nicht möglich und so wird dieses Thema immer mal wieder zum Schauplatz von Machtkämpfen zwischen Therapeuten und Patienten. Der Sieg der Therapeuten ist vorprogrammiert: "Es gibt nur zwei Möglichkeiten, bei uns Therapie zu machen: ganz oder gar nicht!"
Weiter geht es mit der Morgenbegegnung: Der Patientensprecher wiederholt - je nach eigener Befindlichkeit auch mit etwas schleppender Stimme - täglich seine Formel: "Zur heutigen Morgenversammlung begrüße ich alle mit einem fröhlichen guten Morgen." Danach fragt er: "Die Anwesenheit der Gruppen?" In förmlichen Sätzen melden die Gruppensprechern die Anwesenheit der Patienten. Jeden Tag stellt der Patientensprecher die wörtlich gleichen Anfragen: "Haben die Patienten Anfragen an die Therapeuten?", "Haben die Therapeuten Anfragen an die Patienten?" "Gibt es Freistellungsanträge?" und beendet mit dem Wunsch für einen erfolgreichen Tag. Ich frage die Therapeuten in einer Pause, wozu das Ritual gut sein soll, da doch jeder Therapeut seine 8 - 10 Patienten kennt und man Freistellungen auch ganz gut formlos regeln kann. Als Antwort wird mir gesagt, daß dadurch die Selbstverantwortung der Patienten gestärkt wird. Mich erinnert die ganze Zeremonie sehr stark an meine Armeezeit und ich kann mir nicht vorstellen, daß die Meldung des Stubenältesten an den Hauptfeldwebel, daß sein Zimmer vollständig zum Morgenappell erschienen ist, der Stärkung der Selbstverantwortung dienen kann.
Der Oberarzt kritisiert es, daß beim gestrigen Kulturabend einige
Tagespatienten schon früher nach Hause gegangen sind. Ein Patient
verteidigt sich: "Der Kulturabend soll doch eigentlich der Entspannung
dienen. Wenn wir bis 20 Uhr bleiben müssen, nur damit der Struktur
Genüge getan wird, obwohl das Programm schon längst zu Ende ist,
empfinde ich das als Zwang und Druck." Daraufhin versucht der Oberarzt
wortreich dem Patienten klar zu machen, daß das nichts mit Zwang
und Druck zu tun, sondern einen therapeutischen Zweck hat. Niemandem wird
der Zweck klar.
Am Frühstückstisch
kommentiert der Oberarzt die Morgenbegegnung: "Die müssen wir zurechtstutzen
auf unsere eigenen Gegebenheiten.". Als er den Raum verlassen hat, sagt
der Therapeut: "Da hat er in der Morgenbegegnung ja wieder ganz schön
Nebel produziert - natürlich üben wir Druck aus."
Frau F. ist schon über drei Monate da, hat aber immer noch keinen Lebenslauf abgegeben. Die Therapeutin fragt sie ziemlich heftig: "Ich verlange eine Erklärung, wieso Sie den Lebenslauf heute immer noch nicht geschrieben haben. Wir hatten Freitag abgemacht, daß Sie ihn mir heute geben." Frau F. verteidigt sich, sie hätte zu Hause Probleme gehabt und es sei wichtig gewesen. Die Therapeutin droht mit der Krankenhausordnung. Jetzt wird auch Frau F. wütend: "Wenn Sie so ein Scheiß-Wochenende wie ich gehabt hätten." Erregt schaltet sich der Oberarzt ein: "Hören Sie mal auf, sich wie im Kindergarten zu benehmen und immer gegenzuplärren, wenn der Kindergartenvater etwas sagt. Sie tragen doch hier nur ihre Autoritätsprobleme aus. Wenn es Ihnen nicht paßt, sich an die Regeln zu halten, können Sie ja gehen." Projektive Identifikation in Reinkultur. Und keiner kommt auf die Idee zu fragen, was denn bei Frau F. eigentlich genau los war. Ich werde das Gefühl nicht los, daß Patienten und Therapeuten auf einer ganz subtilen Ebene Feinde sind.
Die Therapeuten sitzen am Frühstückstisch und beraten das Programm:
"Hmmm, was machen wir denn in der Bewegungstherapie?" "Vertrauensübung?".
"Ach nein, die war erst vor zwei Wochen". "Wie wäre es denn mal wieder
mit einem Märchen spielen lassen?" "Das ist gut, das hatten
wir lange nicht mehr."ì
Später
ist Rollenspiel dran. Die Gruppe ist in sehr gedrückter Stimmung.
Frau F. ist immer noch geladen - das wäre Thema genug. Die Therapeutin
läßt jeden berichten, was in der letzten Woche sein unangenehmstes
Erlebnis war. Eine erzählt von dem Zoff, den Sie am Wochenende zu
Hause mit ihrem Mann hatte. Die Therapeutin drängt so lange, bis die
Patientin zustimmt, diese Szene zu spielen.
Im nachfolgenden Gruppengespräch mauert die Gruppe. Frau F. sitzt
völlig verkrampft da. Die Therapeutin schafft es nach einer halben
Stunde Schweigen mit Mühe, ein Gespräch über das Rollenspiel
zu initiieren.
Nach der Gruppe
zitiert sie Frau F. zu einem Einzelgespräch.
Umgang mit
Autorität wäre ein schönes Tagesthema gewesen.
Dienstag am Frühstückstisch. Im Tagesbericht von Frau F. lese
ich: "Bitte geben Sie mir noch eine Chance bis Mittwoch, BITTE!". Alle
Therapeuten ziehen über Frau F. her. Heute ist es wirklich böse.
Es wird kein gutes Haar an ihr gelassen, keine liebenswerte Seite an ihr
gefunden. Und nach einer halben Stunde ist mir klar: das ist nicht das
normale Getratsche - sie haben Frau F. fallengelassen und das Meinungsgewirr
dient nur der eigenen Rechtfertigung.
Die Gruppenstunde findet wieder auf einem Nebenschauplatz statt. Frau F.
hängt die ganze Zeit zusammengefallen und grau auf ihrem Stuhl und
sagt im Blitzlicht, daß es ihr beschissen geht. Mir tut ihr Anblick
nur weh und ich denke: Warum fragt diese Therapeutin denn nicht mal, was
los ist???
Mittwoch: Frau F. hat ihren Lebenslauf abgegeben. Er liest sich authentisch
und erschüttert mich. Für die Therapeuten am Frühstückstisch
ist das kein Thema.
Die verschiedenen Therapien plätschern so dahin, drehen sich um alle
möglichen Dinge. Das Gruppengespräch, das in der letzten Woche
zur spannendsten Veranstaltung geworden war, gerade auch durch Frau F.'s
Engagement, ist seit Montag nur noch oberflächliches Gerede und wird
es auch die nächsten Tage bleiben. Nach langem Schweigen gibt es eine
kopflastige Debatte über den Tod. Es ist sicher kein Fehler, sich
über den Tod auszutauschen - mit dem, was unter der Oberfläche
schwelt, hat es recht wenig zu tun. Die Therapeutin bohrt auch nicht weiter
- sicher ein Thema, das ihr selbst nicht so geheuer ist.
Nachmittags ist Malstunde zum Thema "Was zeige ich hier nicht?". Es wird
klar, daß fast alle Patienten das, was wichtig ist, für sich
behalten. Frau F. hat nur ein großes Fragezeichen gemalt, sagt in
der Auswertung, daß sie verwirrt ist, daß nur noch Angst und
Wut in ihr sei. Die Therapeutin bittet sie im Anschluß zu einem Gespräch.
Frau F. lehnt ab: "Ich will nicht mehr sprechen."
Eine Woche später der Oberarzt beim Frühstück: "Na ja, das
mit Frau F. ist ja nun im Ausklingen, sie wird am Freitag entlassen." Die
Therapeutin antwortet: "Ein Glück. Eigentlich war es ein ständiger
Kampf. Sie meint ja, mit ihren Eltern was bearbeitet zu haben, aber genau
genommen ist in den 14 Wochen nichts passiert. Sie hat sich eben einfach
ein Bild über Therapie zusammengesponnen, so, wie sie es aus dem Fernsehen
kennt."
Danach in der Gruppenvisite sagt der Oberarzt: "Tja, Frau F., das mit dem
Vertrauensverhältnis zu den Therapeuten haben Sie ja nicht so ganz
hinbekommen. Aber ansonsten haben Sie wohl ganz schön was geschafft."
Ich bin verblüfft über diese Uminterpretation. So hatte ich mir
therapeutische Authentizität nicht vorgestellt.
Ich frage mich, wie es sein kann, daß es im 21 Jahrhundert immer
noch Therapeuten gibt, die glauben, sie könnten als unbeteiligter
und neutraler Beobachter außerhalb der Gruppe stehen, die glauben,
ihr Verhalten hätte keinen Einfluß auf das Gruppengeschehen,
die den Machtfaktor, den sie selbst darstellen, einfach ignorieren. Selbst
wenn sie versuchen, ihrer Theorie gemäß in der Gruppenstunde
neutral zu sein, macht eine Eskalation wie in der Morgenbegegnung allen
deutlich, wer hier die Autoritäten sind. Und das ist spürbar.
An einer Stelle sagt mal eine Therapeutin: "Mein Gott, die muß doch
das merken, daß wir sie nicht leiden können." Wenn sie
es nicht wissen, so ahnen sie also doch, daß ihr Verhalten auch nonverbal
wirkt. Ehrlicher wäre es, in einer solchen Situation zu sagen: "Frau
F., wir möchten nicht mehr mit Ihnen arbeiten. Bitte gehen Sie nach
Hause." Und ich weiß nicht, ist es nur Blindheit oder ist es Unehrlichkeit,
die den gesamten Umgang aller mit allen durchzieht?
Supervision gibt es nur in dem Sinne, daß einmal im Monat zwei Ärzten
einer anderen Klinik ein Patientenfall vorgestellt wird - ein Reflektieren
über das Verhalten im Team oder das Verhalten des Teams den Patienten
gegenüber findet nicht statt, auch nicht durch externe Beobachter.
Im obigen Fall ist es offenkundig, daß seit der massiven Intervention
in der Morgenbegegnung der Gruppenprozeß stagniert, weil die Patienten
eingeschüchtert sind. Anstatt die Analysetechniken auf sich selbst
anzuwenden, zu schauen, ob es ungelöste Konflikte zwischen Patienten
und Therapeuten gibt, wird der schwarze Peter der Gruppe zugeschoben: "Mein
Gott, so eine schlimme Gruppe hatten wir lange nicht mehr. Die sind ja
so im Widerstand!"
Die Patienten sitzen im Kreis. Die Therapeuten kommen rein, setzen sich
auf ihre Plätze. "Es kann losgehen." Alle starren auf den Boden. Nach
einer halben Stunde bittet die Therapeutin um ein Blitzlicht. Jeder äußert
seinen Gefühlszustand in einem Satz. Das Schweigen geht weiter. Herr
O. verläßt den Raum. Als er wieder hereinkommt. wird er von
der Therapeutin gefragt, wo er gewesen sei.
Er ist auf
der Toilette gewesen.
Und warum
er gerade jetzt gegangen sei?
Er fühlt
sich genötigt, sich zu verteidigen, daß er es schon längere
Zeit vor sich her geschoben hat, aber nun, da ja sowieso keiner etwas sagt,
glaubte, er könne mal kurz gehen.
Am nächsten
Morgen wird der Oberarzt darauf hinweisen, daß man sich so einzurichten
habe, daß man an der ganzen Gruppenstunde teilnehmen kann, und daß
es ja wohl möglich sein müsse, es anderthalb Stunden ohne Toilette
auszuhalten.
Das Schweigen geht weiter. Es gehört zur therapeutischen Methode,
möglichst wenig einzugreifen. Auch wenn jemand etwas sagt, wird selten
reagiert, und wenn, dann beschränkt es sich oft nur auf ein Spiegeln
des Gesagten, sehr selten auch eine Interpretation. Das versieht die Therapeuten
mit einem Nimbus der Unantastbarkeit: Keiner weiß, was sie denken
oder fühlen, sie sind für den Patienten als Menschen nicht greifbar.
Nach einer
Weile wird es der Therapeutin dann doch zuviel: "Was macht es ihnen so
schwer, etwas zu sagen?"
Frau F. antwortet:
"Wenn einer etwas sagt, ist er die ganze Stunde dran."
Die Therapeutin
kontert: "Können Sie sich denn nicht vorstellen, zu sagen, wenn es
Ihnen zu viel wird?"
Die Patientin
bleibt skeptisch: "Das wird ja sowieso nicht respektiert - es wird immer
weiter gestochert."
Die Therapeutin
versucht, dem einen positiven Sinn zu geben: "Sie können doch aber
etwas lernen, etwas klarer sehen, etwas für sich tun?"ì
Das kommt
nicht an: "Ich hab' Angst, dann wieder heulend vor der Gruppe zu sitzen.
Das ist ja so: jeder hier hat Angst, jeder bereitet sich auf's Schweigen
vor."
Die Therapeutin
beginnt zu interpretieren: "Kann es sein, daß Sie sich etwas schämen?
Vielleicht ist da eine Demütigung dabei: Ich schaffe es nicht allein,
ich bin auf die Hilfe von Therapeuten angewiesen? Das ist schon verständlich:
Wenn Sie hier auspacken, zeigen Sie ja auch ihre Hilflosigkeit. Andererseits
ist es ja so, daß man sich in ein Problem verrennen kann, da ist
es einfach gut, wenn mal jemand von außen darauf schaut? Da könnten
Sie sich doch gegenseitig helfen?" Die Therapeutin wendet sich an den Rest
der Gruppe: "Was sagen Sie eigentlich dazu?"
Einer sagt,
daß es sowieso nichts bringt, eine andere, daß sie daß,
was wichtig ist, lieber mit sich allein ausmacht und die dritte ist froh,
daß es heute endlich vorbei ist und sie nach Hause gehen kann .
Auf die Idee,
daß die Atmosphäre in der Gruppenstunde alles andere als vertrauensfördernd
ist und daß das vielleicht auch etwas mit den Therapeuten zu tun
haben könnte, kommt die Therapeutin nicht.
"Tja, die
Zeit ist um." Die Therapeuten verlassen den Gruppenraum und ich kann langsam
verstehen, warum er im Patientenjargon "Folterkammer" heißt.
Im täglichen Eigenbericht eines Patienten lese ich: "Ich habe Angst, etwas zu sagen, weil ich dann zerpflückt werde." Ein Satz, der es schnörkellos auf den Punkt bringt: Die Therapie hier ist alles andere, nur kein geschützter Raum. Niemand, der den Klienten das Gefühl gibt: "Du bist geachtet, so wie Du bist. Du bist willkommen. Gemeinsam werden wir schauen, wie wir Deine Probleme lösen können." So kommt zu der natürlichen Angst vor den eigenen Problemen noch die Angst vor den Therapeuten. Verrückterweise gehört das zur tiefenpsychologischen Methode: Der Patient wird in völliger Ungewißheit gelassen, der Therapeut ist als Mensch nicht fühlbar, und trotzdem wird vom Patienten erwartet, daß er ein Vertrauensverhältnis zu den Therapeuten aufbaut. Die Frustration, die viele seit ihrer Kindheit kennen - nicht akzeptiert zu werden, wie sie sind - wird wiederholt. So entsteht eine paradoxe Situation: Erst erschaffen die Therapeuten Mißtrauen und schieben es dann als Widerstand den Patienten in die Schuhe. Dabei wäre es doch so viel einfacher, durch einen geschützten Raum den Patienten die Angst zu nehmen, sich ihre Probleme mal genauer anzuschauen.
In der Gruppenstunde gibt es Tränen: Herr Q. erzählt von seiner
Kindheit, kommt in ein leichtes Schluchzen. Die Therapeutin kommentiert
unnachahmlich unpersönlich: "Das ist aber sehr anerkennenswert, daß
Sie den Mut haben, hier darüber zu reden." Keine Ich-Botschaft, kein
eigenes Gefühl, obwohl die 7 Regeln des Gruppengesprächs groß
an der Wand stehen. Frau F. ist da sensibler: "Wenn ich das höre,
das berührt mich total, ich kann das voll nachempfinden." Sie spricht
es schwer und atmet tief dabei. Auch ich sitze in meiner Ecke, angerührt
vom Schmerz eines anderen Menschen. Herr Q. spricht weiter, erzählt
von seiner Rolle als ungeliebtes Adoptivkind, von der Kälte des Vaters,
nähert sich zaghaft dem Zentrum seiner Trauer.
Die Therapeutin sitzt da, die Beine verknotet, die Arme vor der Brust verschränkt,
eine Hand vor dem Mund. Bloß nichts ranlassen! Sie beginnt Haken
zu schlagen, ich werde es noch oft erleben: Immer wenn jemand seinen Gefühlen
nahe kommt, wird die Frage kommen: "Was sagen denn die anderen dazu?" Und
schon steht Herr Q. allein da mit seiner aufgerissenen Wunde, versucht
sich zu beruhigen, den Deckel wieder darüber zu schieben.
Heute gibt
es eine Variation, denn Herr M. sitzt schon eine ganze Weile mit gesenktem
Kopf, knetet sich sein hochrotes Gesicht. Das Thema trifft ihn auch.
"Was sagen sie dazu, Herr M.? Die Gründe für Herrn Q's Schmerz
scheinen auch in Ihrer Biographie Parallelen zu haben?" Herr M., ein wortkarger
Maurer, Einzelgänger, der über seine Gefühl gern mit einem
"Hmm, was weiß denn ich?ì drüberwegrutscht, steigt darauf
ein, erzählt von den Schlägen seines Stiefvaters, von dem ungeheuren
Haß, den er ein Leben lang in sich hineingefressen hat, daß
selbst das Gefängnis eine Erleichterung der Hölle zu Hause gegenüber
war. Die Hände ballen sich, der Atem wird schneller, erste Tränen
rollen. Die Therapeutin kommentiert: "Da haben Sie sich also einen Raum
freigehalten, ich meine, für das menschliche." Das wirkt wie kaltes
Wasser, alles ist wieder unter Kontrolle. Schnell gibt sie das Thema an
die Gruppe. Frau C. beginnt es zu zerreden, erzählt Belanglosigkeiten,
ist emotional nicht wirklich anwesend. Doch die Ladung bei den beiden ist
so groß, daß das Gespräch immer wieder zu ihnen zurückkehrt.
Das Einfachste
wäre, die beiden zu ermutigen, wirklich ganz in die Erinnerungen einzutauchen,
die Wut und die Trauer zu fühlen und so die Situation im Nachhinein
zu abzuschließen und zu integrieren. Doch die Therapeutin kann es
nicht sehen, will es nicht sehen, preßt das Leben lieber in das Prokrustebett
einer 100 Jahre alten Theorie. Und diese betrachtet eine Kartharsis nur
als sinnloses Ausagieren. Anstatt die inneren Wunden zu heilen, soll der
Patient zu der Einsicht kommen, die äußeren Wirkungen der Wunden
durch bewußtes Verhalten zu beeinflussen. Dabei würde die Auflösung
der alten Schmerzen schlagartig das aktuelle Verhalten verändern -
statt monatelanger Verhaltensanalyse würden einige Stunden Arbeit
mit den gestauten Emotionen und in den nächsten Tagen etwas Unterstützung
zur kognitiven Integration völlig genügen. Stattdessen versuchen
die Therapeuten, die Symptomen an die gesellschaftlichen Normen anzupassen,
indem sie gute Ratschläge geben: Herr M. soll also erkennen, daß
es falsch ist, sich ständig vor den Menschen in die Einsamkeit zu
flüchten, nur weil er Angst hat, sein Haß könnte sich unkontrolliert
einen Weg bahnen und einen Unschuldigen treffen. Und Herr Q. soll merken,
daß es nichts bringt, ständig mit männlichen Autoritäten
in den Kampf zu gehen. Analyse und Verhaltensstraining, um Gefühle
unter Kontrolle zu halten. Der Gruppenraum ist für die Arbeit mit
Emotionen auch nicht eingerichtet: Es gibt weder Schaumgummimatte, noch
Zellstoff. Und keiner ist da, der sagt:, "Atme tiefer. Fühle, was
da ist. Schau genau hin. Halte nichts fest." und der dann fähig ist
aufzufangen, was immer passiert.
Irgendwann
scheinen die beiden zu spüren, daß sie hier keine Chance haben,
ihre Spannungen loszuwerden. Sie gehen in die Resignation. Die Therapeutin
verteilt weiter Ratschläge: "Herr Q. ich habe ja Verständnis
dafür, daß Sie immer noch sehr unter Spannungen stehen. Haben
sie es schon mal mit Sport versucht? Das ist eine gute Methode, um Spannungen
abzubauen." Ein neues Pflaster auf den Dreckverband, aus dem der Eiter
sikkert! Und Herrn M. empfiehlt sie, genauer zu sortieren, da es ja gar
nicht um seinen Vater gegangen sei, sondern um den Vater von Herrn Q. Und
wenn er trotzdem unter Druck geraten sollte, könne er doch autogenes
Training oder konzentrative Entspannung machen, um seine Gefühle zu
kontrollieren. Sie hat überhaupt keine Ahnung davon, daß es
völlig normal ist, daß Menschen mit ähnlichen Lebensthemen
in solchen Situationen in Resonanz gehen - und daß es für andere
Therapeuten kein Problem wäre, dann eben mit 2 Personen parallel zu
arbeiten.
Später sitzen die Therapeuten im Pausenraum zusammen. "Also ich versteh'
das auch nicht: Ständig reißt Herr M. das Gespräch an sich."
"Na ja, mir kam es so vor, als ob Herr Q. und Herr M. im Wettstreit waren,
wer von beiden denn nun die schlimmere Kindheit hatte." Ich bin entsetzt:
Die Therapeutin hat doch selbst die Aufmerksamkeit ständig dort abgezogen,
wo es am stärksten brodelte. Und sicher nicht aus Rücksicht auf
die Patienten, sondern wohl aus Angst vor dem, was passieren würde,
wenn sie dort einhakt, Angst vor der ungeheuren Wucht, mit der sich solche
jahrzehntelang aufgestauten Gefühle entladen können. Und mir
wird klar, daß die beiden wirklich nicht sehen, was da los ist, dem
überhaupt keinen eigenen Wert beimessen, sondern alles nur an den
in diesem Zusammenhang völlig absurden gruppendynamischen Fragen messen:
"Warum macht denn der das gerade jetzt? Was will er damit bei uns erreichen?
Streiten die sich gerade um die Gruppenführung?" Anstatt die existentiellen
Situationen wahrzunehmen, unterstellen sie den Patienten, diese würden
die aktuelle Gruppensituation mittels ihren Gefühlen manipulieren
wollen.
Zum Schluß
kommentieren sie noch, was sie unter Gefühlen verstehen: "Na, da haben
die beiden sich ja ziemlich mit Tränen vollgeschüttet."
"Ja, und die
anderen in der Gruppe waren entsetzt darüber."
Täglich
höre ich diese Sätze:
"Sie müssen
Ihre Gefühle zulassen."
"Wie fühlen
Sie sich dabei?"
"Wie geht
es Ihnen damit?"
Überall, in der Bewegungstherapie, in der Gestaltungstherapie, im
Gruppengespräch. Und immer ist damit gemeint: Sprechen Sie über
Ihre Gefühle, verbalisieren Sie sie. Und schon ist man weg vom Gefühl,
ist mit seiner Aufmerksamkeit im Kopf, stellt sich die Frage: "Was habe
ich da eben eigentlich gefühlt?" Aber kein Therapeut gibt den Raum
zum Fühlen, indem er einfach sagt: "Nimm das wahr" und dann erst mal
den Mund hält. Und es erklärt auch keiner, was es für verschiedene
Arten von Gefühlen gibt, warum Fühlen besser ist als Verdrängen,
wie man Gefühle am besten zuläßt, ohne sich oder andere
zu verletzen, wie man sie in unpassenden Situationen besser zurückstellt,
wie man einen Gefühlsausbruch in der Gruppe auffängt. Existentielle
Gefühle werden in das gruppendynamische Schema gepresst und uminterpretiert
als hysterischer Ausdruck mit dem Zweck, die Gruppe und die Therapeuten
manipulieren zu wollen.
In der Pause
beschwert sich ein Therapeut über eine neue Patientin: "Die Frau K.,
da kommt man einfach nicht ran, die hat schon mal eine Therapie gemacht,
die kann genau über ihre Probleme reflektieren - aber sie ist kalt
dabei, sie fühlt es nicht." Scheinbar gibt es noch mehr Therapeuten,
die solange verbalisieren lassen, bis man nichts mehr fühlt.
Ich frage in der Pause die Therapeuten: "Was ist eigentlich, wenn wirklich
mal einer platzt, hemmungslos heult oder losschreit und um sich schlägt?"
Ein Therapeut sagt: "In den ganzen Jahren, die ich hier bin, ist das noch
nie geschehen." Ein anderer erinnert sich: "Doch, vor einigen Jahren, da
hat mal eine stundenlang hysterisch auf dem Flur rumgeschrieen - der haben
wir eine Spritze gegeben."
Es ist paradox: um die Patienten an ihre Gefühle zu bringen, wird
Druck ausgeübt, geben sich die Therapeuten als lieblose ‹bereltern.
Und wenn dann wirklich ein Patient fast platzt, kommt kein Therapeut darauf,
ihm eine Brücke zu bauen, indem er z.B. mit ehrlichem Mitgefühl
in der Gruppenstunde sagt: "Herr Y., ihnen scheint es nicht gut zu gehen,
was ist mit Ihnen los?" Anstehende Themen werden nicht angesprochen, die
eigene Meinung wird verschwiegen, die eigenen Gefühle werden nicht
gezeigt, obwohl das alles sicher nonverbal ständig durchschimmert.
Wenn ein Patient wirklich den Mut hat, bis an's "Eingemachte" zu gehen,
wird schnell abgelenkt: "Anfüttern und verhungern lassen!" Da ist
es kein Wunder, daß es immer schlimmer wird mit den Schmerzen - zu
den körperlichen kommen die der aufgerissenen seelischen Wunden noch
hinzu. Keine Hoffnung auf Erleichterung, keine Hoffnung auf Kartharsis,
keine Hoffnung auf Einsicht und Aufarbeitung der wirklichen Hintergründe.
Sinnloses Leiden, nur weil die Therapeuten Angst vor Gefühlen haben.
Und die Patienten kommen nicht auf die Idee, die ‹bereltern zu hinterfragen,
kommen nicht auf die Idee, daß es in dieser Situation richtig ist,
KEIN Vertrauen zu haben. Statt dessen höre ich von ihnen resignative
Sätze wie: "Ich kann meine Gefühle einfach nicht loslassen."
"Ich habe Angst." "Es fällt mir schwer, Vertrauen zu haben." Sie geben
sich selbst die Schuld und halten sich für kalt und für Versager.
Dabei ist es doch der gesunde Selbsterhaltungstrieb, der sie nicht auf
Geheiß der Therapeuten aus 10 Meter Höhe auf den nackten Beton
springen läßt.
Frau F. ist Ende 30. Und sie ist direkt. Wenn ihr etwas gefällt, sagt
sie es, und auch wenn es ihr nicht gefällt. Man braucht keine Angst
zu haben, daß sie es hintenherum tut. Und sie zeigt Zuneigung auch
körperlich: ein solidarisches Schulterklopfen, ein anfeuernder Knuff
in die Seite, eine Umarmung nach einer gelungenen Partnerübung in
der Bewegungstherapie.
Was für
mich normal aussieht, wird in der Mittagsrunde der Therapeuten ganz anders
gesehen: "völlig distanzlos .... Immer dieses Rumgetatsche .... Mir
reicht das schon lange ... der sollte man mal kräftig auf die Pfoten
hauen ...". Keiner von ihnen kommt auf die Idee, sich zu hinterfragen,
ob er selbst Probleme mit Nähe hat, Angst vor Berührung.
Eine Stunden später in der Gruppenvisite die Therapeutin: "Frau F.,
wie ist das eigentlich, sie geben Herrn Q. manchmal einen Knuff oder legen
ihm die Hand auf die Schulter ...??"
Ich bin erstaunt,
wie neutral das kommt.
Herr Q. ist
der jüngste in der Gruppe, grade um die 20, der Schützling von
Frau F.. "Na ja, ich muß ihm doch mal ein bißchen Mut machen.
Ich glaub', ihm hilft das."
Die Therapeutin
wendet sich an Herrn Q. "Sind sie auch der Meinung? Und würden sie
bei Frau F. genauso reagieren?"
"Na klar,
das ist doch schön, das hilft einem doch, wenn man weiß, daß
man nicht allein ist. Sonst hätte ich mich sicher bis heut' nicht
getraut, in der Gruppe mal was zu sagen." Die Therapeutin zieht sich hinter
ihre Hand zurück, wendet sich an den Nachbarn auf der anderen Seite.
Herr A. sagt selten etwas in der Gruppenstunde und ist auch sonst sehr
zurückhaltend.
"Herr A.,
wie sehen Sie das, wenn Frau F. sie berührt?"
"Na ja, das
ist schon angenehm."
"Und würden
Sie es auch bei ihr tun?"
"Ja, wenn
ich mich trauen würde ..."
Ich grinse
in mich hinein. Leider kann ich das Gesicht der Therapeutin nicht sehen.
So sehe ich nur den Knoten in ihren übereinandergeschlagenen Beinen,
der immer fester wird ...
Wir sind in einem Krankenhaus. Da siezt man sich. Das ist einfach so üblich.
Da gibt es
Regeln. Diese Regeln sind zum Besten der Patienten gemacht, die braucht
man nicht zu hinterfragen.
Da gibt es
Therapeuten.
Sie reden
von Gefühlen und verziehen kein Gesicht, wenn jemand einen Witz macht
oder weint.
Sie haben
keine Meinung. Das ist Methode.
Sie bohren
und hinterfragen, aber sie erklären nichts. Das ist zu kompliziert.
Sie ordnen
Maßnahmen an, deren Sinn niemand versteht:
Früh
um halb Acht konzentrative Entspannung? Das ist nur zu Ihrem Besten!
Die Arme schwingen
nach klassischer Musik? Das war schon immer so!
Einen Lebenslauf
schreiben? Das gehört zur Therapie!
Ein Gruppengespräch
verlängern oder aus aktuellem Anlaß ein zusätzliches einschieben?
Das gibt's hier nicht! Die Therapien laufen nach Plan, das gewöhnt
die Patienten an Struktur!
Im Pausenraum machen sich die zurückgehaltene Gefühle und Meinungen der Therapeuten Luft. Es wird karikiert und übertrieben, man gackert und kichert, ist manchmal auch böse:
"... die fährt
Motorrad..." "... sieht man doch: ein Mannweib ..."
"... der ist
total demonstrativ ..." "... alles nur Theater ..."
"... die kleidet
sich immer so aufreizend ..." "... kein Wunder, wenn die Männer sie
anmachen ..."
"... der mit
seinem Psalmodieren ..." "... mich langweilt es schon, wenn er nur den
Mund aufmacht ..."
"... die mit
ihren Todesphantasien ..." "... ja, ja, das kenn' ich, ist seit Wochen
die gleiche Leier ..."
"... die faßt
jeden an ..." "... völlig distanzlos ..."
"... und wie
der riecht ...""... ja, absolut ungepflegt ..."
"... die hat
ein umgekehrtes Kreuz um den Hals ..." "... vielleicht Sekte ..." "...
sicher Satanisten ..."
Ich bin erschüttert über die mangelnde Achtung, mit der hier
von Menschen gesprochen wird. Der Patient hat keine Chance, denn jede Eigenheit,
jedes Verhalten, jeder Satz wird sofort als krankhaft interpretiert, an
der persönlichen Vorstellung, die die Therapeuten von einem "Durchschnittsgesunden"
haben, gemessen. In der Norm und also "gesund" sind nur sie selbst. Positive
Deutungen gibt es nicht: Wenn sich ein Patient um einen anderen kümmert,
ist das keine Mitmenschlichkeit, sondern "Anklammern", kümmert er
sich nicht, ist er "narzißtisch". Wenn die Patienten in der Bewegungstherapie
wild sind, ist es "Aggressivität", sind sie eher soft, gibt es die
Etiketten "konfliktscheu" oder "energielos". Selbst als kerngesunder Mensch
würde man wohl gleich ein Krankheitsetikett angeheftet bekommen, denn
so gut wie nichts wird als natürlicher Ausdruck der Individualität
gewertet, als Ressource oder Potential gesehen. Auch etwaige Unmutsäußerungen
der Patienten über die Klinik und die Therapeuten werden nicht auf
ihre aktuelle Berechtigung geprüft, sondern nur als Ausdruck ihrer
Störung gesehen.
Ich frage, ob diese Gruppe besonders schlimm ist. Jemand antwortet: "Nein,
nein, es sind immer die am schlimmsten, die gerade da sind - im Rückblick
verklärt sich das und klingt dann so: Weißt Du noch, damals,
die Frau M.?"
Ich merke,
daß sie es nicht wirklich böse meinen - die Patienten sind eben
nur nicht ihresgleichen.
Mir drängt
sich das Bild eines Labyrinthes auf: Die Therapeuten schauen wie die Götter
von oben auf die Erde, schauen den Patienten zu, wie sie durch die Gänge
irren, über Hindernisse stolpern. Manchmal rufen sie "Warm!" oder
"Kalt!", obwohl sie es selbst nicht wissen, da sie zwar eine Landkarte
auswendig gelernt haben, aber niemals dort waren. Und auf dem Flur höre
ich, wie ein Patient zu einem anderen sagt: "Verstehst Du, warum die uns
so auf Abstand halten? Wir sind doch keine Aussätzigen ..."
Natürlich
gibt es im täglichen Umgang auch Beispiele, wie sich die Therapeuten
Sorgen um die Patienten machten oder versuchten, ihnen ein Stück entgegenzukommen.
Und doch ist der Umgang insgesamt durch einen von mir bis dahin noch nie
erlebten Abstand, durch eine ständig gegenwärtige Kühle
gekennzeichnet. Mir ist sehr wohl bewußt, daß das nicht aus
Böswilligkeit geschieht, sondern aus verschiedenen Beschränkungen
resultiert: Dem Zurückhaltungsgebot der Freud'schen Theorie; dem menschlichen
Abstand, der durch die Hierarchien des Gesundheitswesens erzeugt wird -
selbst die Mitarbeiter untereinander duzen sich nur innerhalb einer Hierarchiestufe
- und durch die (unbewußte) Angst der Therapeuten vor wirklich tiefen
seelischen Prozessen der Patienten. Ich bin mir sicher, daß jeder
von ihnen seinen Beruf liebt und das Beste für seine Patienten möchte.
Doch vermisse ich eine Komponente, die m. E. einen guten Therapeuten auszeichnet:
Empathie, Einfühlungsvermögen. Und genau das ist es, was aus
dem Umgang mit Dingen einen Umgang mit Menschen macht, was einen Psychotherapeuten
vom Autoschlosser unterscheidet. Und ich bin dankbar, meine bisherigen
Erfahrungen von Therapie mit einem anderen Bild beschreiben zu können:
Der Therapeut, der das Labyrinth seiner eigenen Seele selbst erkundet hat,
der daher viele Gefahren kennt und mit dem Klienten durch dessen Labyrinth
geht, die Aufgaben erkennend, die der Klient allein lösen muß,
und ihm auf der Schwelle Mut macht: "Durch diesen Raum mußt Du allein
gehen - ich warte auf der anderen Seite auf Dich."
Die Patienten auf dieser Station sind keine Psychotiker, sondern Menschen,
die überwiegend im Berufsleben stehen und sich wegen Somatisierungen,
Depressionen, Angststörungen u.ä., teilweise nach einschneidenden
Lebensereignissen, selbst entschieden haben, eine Therapie zu machen. In
den Monaten, die ich hier bin, sind bisher 11 Patienten entlassen worden,
kein einziger mit dem Prädikat Ñgesundì. Einige sind
so ehrlich, sich mit der entmutigenden Selbsteinschätzung: "Das bringt
ja doch nichts (mehr)!" zu verabschieden. Manch kleiner Therapieerfolg
wird groß geredet aus der Angst heraus, vor sich und anderen als
Versager dazustehen. Dabei haben sich die Schmerzen oft nur unwesentlich
gebessert, sind die Symptome oft nur verschoben. Das entspricht gerade
mal so dem von Freud definierten Therapieziel, "das übermäßige
Leiden des Neurotikers in die normale Misere des Alltags umzuwandeln",
nicht aber einer seelischen Gesundheit.
Auf der Station findet man von Verhaltensstörungen, Angststörungen,
Depression, emotionale Störungen über Sucht, Eßstörungen,
Somatisierungen bis hin zu Borderline alles. Offensichtlich spielt es keine
Rolle, daß es spätestens seit K. Grawe bekannt ist, daß
verschiedene Therapieformen bei verschiedenen Diagnosen unterschiedlich
gut wirken. Es wird genommen, was kommt - die Symptome lassen sich allemal
analytisch erklären. Es ist auch normal, daß für fast jeden
eine Verlängerung von 12 auf 14 oder gar 16 Wochen beantragt wird
- mit den üblichen schwammigen Begründungen. Und ich frage mich,
ob das Grundmotiv wirklich die Gesundheit der Patienten oder eher die Auslastung
der Station ist.
Die Theorie
hinter der Therapie ist das tiefenpsychologische Modell, das davon ausgeht,
daß die Beziehungsmuster der Außenwelt, allen voran die Beziehungen
zu den Eltern, in der Therapiesituation nahtlos auf andere Personen übertragen
werden, daß sich also die Patienten in der Sondersituation eines
Krankenhauses automatisch genauso wie außerhalb desselben verhalten
und daß es aus diesem Grunde überflüssig ist, sich mit
den Problemen in der Außenwelt zu beschäftigen. Davon abgesehen,
daß ich mir kaum vorstellen kann, daß die meist älteren
Patienten ihre Elternproblematik auf die doch sehr jungen Therapeuten übertragen
können, auch weil sich diese sicher sehr anders verhalten, als die
meisten Eltern es jemals tun würden, macht es auch deutlich, warum
die Therapeuten jedes Erinnern an die Kindheit auf die Gegenwart zurücklenken.
Eine emotionale Aufarbeitung findet nicht statt, statt dessen geht es hauptsächlich
um ein Erkennen und Regulieren des eigenen Verhaltens. Existentielle Ursachen
oder Verletzungen gleich welcher Art spielen keine Rolle, die Freud'sche
Theorie, nach der die Ursachen aller psychischen Störungen allein
in der Eltern-Kind-Beziehung zu finden sind, dient lediglich dazu, die
Phänomene - irgendwie - zu erklären.
Ich frage
den Therapeuten, ob die Ergebnisse von 3 Monaten Therapie nicht frustrierend
sind. Er antwortet mir, daß die meisten Patienten einfach frühgestört
seien und daß 12 Wochen zuwenig sind. Diese Zeit bräuchten die
meisten allein schon dafür, ein Vertrauensverhältnis zu den Therapeuten
aufzubauen, so daß es eine Leistung sei, wenn sie am Ende der Therapie
überhaupt von ihren Problemen sprächen. Ich verkneife mir zu
sagen, daß ich schon Gruppentherapie erlebt habe, wo die Klienten
den Beginn der Gruppenstunde kaum erwarten konnten und daß ich dort
Menschen erlebt habe, die wesentlich schlimmer dran waren als das Gros
der hiesigen Gruppe und die nach 6 Wochen ihre gröbsten Probleme ursächlich
bearbeitet hatten. Das war allerdings in Kliniken, wo man normalerweise
nach 8 Wochen entlassen wurde, weil die Wartelisten so lang waren. Außerdem
haben die Therapeuten dort die Fähigkeit, innerhalb weniger Tage durch
ihr authentisches Verhalten ein Vertrauensverhältnis herzustellen
und arbeiten auch mit etwas anderen Methoden ...
Natürlich bringt auch diese Therapie den Patienten etwas. Gerade die,
die sich vielleicht noch nie über längere Zeit mit sich selbst
beschäftigt hatten, werden angehalten, 8 Stunden und länger über
sich nachzudenken, sich selbst und und ihre Beziehungen zu andere Menschen
zu beobachten. Probleme, die durch verbesserte soziale Fähigkeiten
und Selbstreflexion nicht gelöst werden können weil sie z.B.
einer wirklichen emotionalen Aufarbeitung bedürfen, anstatt nur darüber
zu reden , bleiben jedoch unbearbeitet. Dabei beweisen viele erlebnisorientierte
Therapieformen, daß eine authentische emotionale Auseinandersetzung
innerhalb kürzester Zeit eine völlige Veränderung auch des
sozialen Verhaltens mit sich bringt.
Natürlich
können die Patienten in dieser Klinik von sich behaupten, daß
sie jeden Schritt, den sie gemacht haben, auch wirklich allein gemacht
haben, manchen sogar gegen die Intention der Therapeuten. Außer dem
Satz, daß man auf seine Gefühle achten soll, wird einem hier
wirklich nichts vorgesagt. Doch fragt es sich, ob die ständigen Doppelbotschaften
- der Glaube an den helfenden Therapeuten und die gleichzeitige Erfahrung,
von diesen permanent frustriert zu werden - wirklich der Heilung
dienen, oder diese nicht eher behindern. Meines Erachtens wäre der
größte Lernschritt der Patienten auf dieser Station, sich gegen
diese Therapie aufzulehnen ...
Jetzt ist natürlich die Frage: Warum hat der Autor dieses Artikels
sich nicht dagegen aufgelehnt. In der Tat habe ich in den ersten 2 Tagen
daran gedacht, habe mich dann jedoch dafür entschieden, eine Doppelrolle
zu spielen: Tagsüber der fragende Student und abends der Schreiber
dieses Artikels - und ich kann mich für diese Täuschung nur entschuldigen.
Doch war ich der Meinung, daß es wohl eher selten vorkommt, daß
jemand die klassische klinische Psychotherapie aus meinem Blickwinkel betrachten
kann: Die Patienten und andere Praktikannten kennen zu wenig vergleichbares;
die, die dort beschäftigt sind, kennen nichts anderes; und die Therapeuten,
die auf einem anderen Niveau arbeiten, werden sich hüten, jemals in
eine solche Einrichtung zu gehen. Ich hatte mir ja vorgenommen, einmal
ganz normalen Klinikalltag kennenzulernen, und genau das habe ich erreicht
, auch wenn es mir ein Leichtes gewesen wäre, bei befreundeten Psychologen
ein angenehmeres Praktikum zu machen.
Um mein Anliegen noch einmal ganz deutlich zu machen: Es geht mir beileibe
nicht darum, mit diesem Artikel einen einzelne Therapeuten oder eine Station
anzuschwärzen. Und ich hoffe auch, daß die Anonymisierung so
gut ist, daß Personen und Schauplatz der Handlung nicht mehr erkennbar
sind. Wenn es eine Frage gibt, die mich dabei bewegt, dann ist es die,
inwieweit wir als Psychiater/Psychologen die Verantwortung den Klienten
gegenüber haben, Psychotherapie auf höchstem fachlichem UND menschlichem
Niveau anzubieten, Psychotherapie, die den Klienten als kompetenten Menschen
achtet und ihm Hilfestellung gibt, seine Probleme selbst zu lösen.
Und aufgrund der besonderen Eigenschaften von Psychotherapie ist eine Gefahr
leider immer gegenwärtig: Kein Therapeut ist gezwungen, sich selbst
zu hinterfragen, da er aufgrund seiner fachlichen Qualifikation immer dem
anderen eine Störung unterstellen kann. Dabei wäre es eine der
wichtigsten Herausforderungen, sein eigenes Wirken auf die Klienten immer
wieder kritisch zu betrachten oder supervisieren zu lassen.
Sicher wird
es auch einige tiefenpsychologisch/analytisch arbeitende Therapeuten geben,
ähnlich denen in der beschriebenen Klinik, die sich jetzt in Deutungen
und Spekulationen ergehen werden: ,Aus welchem Grunde hat der Autor diesen
Artikel geschrieben, welche neurotischen Störungen sind ihm zu eigen?ì
Mir persönlich genügt es als Deutung festzustellen, daß
das Schreiben es mir möglich gemacht hat, die Zeit dort zu überstehen,
daß es überhaupt das Motiv war, nicht gleich wieder zu gehen.
In den letzten beiden Jahren hat es im Bereich der seelischen Hilfe für
Menschen einschneidende Veränderungen gegeben. Dies geschah in erster
Linie durch ein im Bundestag erlassenes Gesetz, das Psychotherapeutengesetz,
das die Behandlung seelisch erkrankter Menschen auf zwei Richtlinienverfahren
einschränkt: Die Verhaltenstherapie und die psychoanalytisch orientierten
Therapien (z.B. Psychoanalyse, tiefenpsychologisch fundierte Therapie).
Obwohl beide Schulen nicht unumstritten sind, haben sie als älteste
psychologische Schulen jeweils starke Lobbies. Damit werden z.B. Psychologen
und Therapeuten, die es ablehnen, den Menschen überwiegend als eine
triebgesteuerte Maschine (klassische Psychoanalyse nach Freud) oder ein
dressiertes Tier (konventionelle Verhaltenstherapie) zu betrachten, und
die mit teilweise sehr effektiven Kurzzeittherapien z.B. aus der Humanistischen
oder Systemischen Psychologie arbeiten, daran gehindert, mit normalen Kassenpatienten
zu arbeiten - ihre Domäne bleibt der Privatpatient, der bereit ist,
seine Therapie selbst zu bezahlen.
Weiterhin
konnten die Ärzte in diesem Gesetz für sich durchsetzen, daß
ihr Einfluß im klinischen Bereich ungebrochen bleibt, daß also
im allgemeinen, obwohl es sich um primär psychische Erkrankungen handelt,
Ärzte
den psychotherapeutischen Stationen vorstehen. Dies ist insofern dramatisch,
als damit die klassischen Strukturen und Hierarchien des Gesundheitswesens
mit in die klinische Psychotherapie hineinwirken, die m. E. für eine
psychische Gesundung eher kontraproduktiv sind. Außerdem wurde dadurch
die Vorherrschaft der Freud'schen Methoden zementiert, da die meisten Psychiater
eine psychoanalytische/ tiefenpsychologische Ausbildung haben.
Mir ist während
des Praktikums klar geworden, daß es mehrere Aspekte gibt, die für
den Erfolg und die Wirkung einer Therapie notwendig sind, und daß
man daher nicht pauschal Menschen, Schulen, etc. verurteilen kann. Meines
Erachtens gehören dazu:
Z.B. konnte ich vor Jahren - allerdings noch nicht unter dem Aspekt des
Studiums - mehrere Monate in einer psychoanalytisch orientierten Ausnahmeklinik
zubringen, weiß also, daß ähnliche Methoden in ähnlichem
Rahmen trotzdem zu völlig anderen Ergebnissen führen können.
Ich persönlich halte die durch therapeutische Arbeit an sich selbst
erworbene eigene Reife für den wichtigsten Aspekt einer erfolgreichen
therapeutischen Arbeit überhaupt - nur so ist es zu erklären,
daß es in allen Schulen Therapeuten mit einer hohen Erfolgsquote
gibt, die Wirksamkeit von Therapie innerhalb der Schulen aber stark differiert.
Und jede Methode läßt sich letztendlich als Werkzeug zum Nutzen
des Klienten oder als Waffe zum Schutz des eigenen Selbstbildes einsetzen.
Diese Beschreibung individueller Erfahrungen ist sicher nicht geeignet,
irgendwelche allgemeingültigen Aussagen über Schulen, Therapeuten,
Institutionen etc. zu treffen. M.E. wäre schon viel gewonnen, wenn
es stärker öffentlich diskutiert würde, das die Behandlung
einer psychischen Erkrankung nicht notwendigerweise in die nächstgelegene
Psychotherapie zu führen hat, sondern daß es verschiedene Methoden,
spezielle Einrichtungen und Therapeuten für die diversen Erkrankungen
gibt. Außerdem dürfte auch ein psychisch erkrankter Patient
den Anspruch auf freie Therapeutenwahl, sowie einen Anspruch darauf haben,
bei dieser Wahl unterstützt und beraten zu werden.
Eine besondere Bedeutung bei der Evaluation der Angebote vor Ort haben
die Krankenkassen, denn sie müssen ja für die Kosten aufkommen:12
Wochen oder mehr haben ihren Preis. Sicher wäre es kein Problem, über
Fragebögen an behandelten Patienten die Effektivität vorhandener
Therapieangebote zu bewerten und danach über die eigenen Informationshefte
Empfehlungen auszusprechen bzw. über die Kostenübernahme regulierend
einzugreifen. Die einfachste Form wäre wohl die Frage: "Würden
Sie diese Therapie auch machen, wenn Sie sie selbst bezahlen müßten?"
Allein diese Frage würde so manchen Klienten nötigen, genau zu
schauen, ob Kosten und Nutzen in einem realistischen Verhältnis standen.
Auch durch die genauere Abstimmung, welche Störung am besten in welcher
Klinik mit welcher Methode behandelt wird, ließen sich die Kosten
drastisch senken und Therapiefehler - von denen Therapieresistenz eine
eher mildere Form ist - weitestgehend vermeiden.
Es wird sicher noch Jahre dauern, bis die psychologischen Berufsverbände
Gütekriterien wie menschliche Reife, partizipativen Umgang mit den
Klienten oder Effektivität in die Voraussetzungen, als Therapeut arbeiten
zu können, mit aufnehmen - Ausbildung wird bis heute überwiegend
als eine Angelegenheit des Intellekts aufgefaßt, eine Ansicht, die
bei der Ausbildung von Psychotherapeuten viel zu kurz greift. Die einzigen,
die heute schon diesen Kriterien genügen müssen, sind die freien
Therapeuten, die nicht mit Kassenpatienten arbeiten: Kaum ein Klient würde
eine Therapie von 12 Wochen Dauer bezahlen können, die ihn dann auch
noch statt geheilt gedemütigt entläßt. Der Markt als qualitatives
Regulativ birgt allerdings neben anderen Gefahren auch die einer 2-Klassen-Psychologie:
Die jungen und/ oder schlechten Therapeuten dürfen in Krankenhäusern
mit den Klienten experimentieren, die nicht das Geld haben, sich einen
guten, frei praktizierenden Therapeuten zu leisten. Und der Trend ist leider
derzeit ziemlich groß, daß gute Therapeuten dem stressigen
Klinikalltag den Rücken kehren und es vorziehen, sich niederzulassen.
Abgesehen von Fällen, wo es einem Menschen aufgrund seiner aktuellen
Situation nicht möglich ist, eine bewußte Entscheidung zu treffen,
bzw. wo es unverantwortlich wäre, ihn monatelang auf die Warteliste
zu setzen, nur weil seine Wunschtherapie hoffnungslos überfüllt
ist, bleibt die öffentliche Diskussion, auch im lokalen Rahmen, die
wichtigste Entscheidungshilfe für einen Therapiewilligen. Denn es
kann in unserer ansonsten so aufgeklärten Zeit eigentlich nicht angehen,
daß die meisten Menschen aus purer Uninformiertheit bei der Auswahl
einer Weinsorte für den Freitagabend mehr Sorgfalt an den Tag legen,
als bei der Auswahl eines Therapeuten, der höchstwahrscheinlich die
Richtung ihres weiteren Lebens maßgeblich beeinflussen wird. Der
"kompetente Klient" ist sicher der beste Garant dafür, daß die
seinen Problemen am ehesten entsprechende Psychotherapie gefunden wird
und gleichzeitig eine wirksame Qualitätskontrolle für die anbietenden
Einrichtungen: Gute Therapie spricht sich rum!