Erleben und Erlebnis bei Karl Marbe
Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zur Methode der Fundstellen-Textanalyse. * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis
Zusammenfassung-Marbe-1901:
"Alles, was wir selbst oder andere Wesen unmittelbar erleben, bezeichnet
man als Bewusstseinsvorgänge oder als Erlebnisse. Das gesamte psychische
Geschehen gehört hierher: Das gesamte psychische Geschehen gehört
hierher: Die Sinneswahrnehmungen und die Gefühle, das Denken und Wollen
des Menschen und der Tiere ..." (DE+)
Fundstellen erleben 29, erlebt 22, Erlebnis 164.
1f: "Alles, was wir selbst oder andere Wesen unmittelbar
erleben, bezeichnet man als Bewusstseinsvorgänge oder als
Erlebnisse. Das gesamte psychische Geschehen gehört hier-
her: Die Sinneswahrnehmungen und die Gefühle, das Denken
und Wollen des Menschen und der Tiere inklusive der (viel-
leicht bei niederen Tieren ausschliesslich vorhandenen) unbestimmten,
undeutlichen psychischen Vorgänge. Nur von den
Bewusstseinsvorgängen des Menschen soll indessen in dieser
Schrift die Bede sein.
Man teilt diese ein in äussere und innere Erlebnisse,
indem man zu jenen die Sinneswahrnehmungen, zu diesen alle
übrigen Bewusstseinsvorgänge rechnet. Von den Sinneswahr-
nehmungen sagt man auch, sie seienGegenständeder äusseren
WahrnehmungoderäussereWahrnehmungen, vondenübrigen
Erlebnissen, sie seien Gegenstände der innerenWahrnehmung
oder innere Wahrnehmungen.
Unsere Kenntnis unserer Bewusstseinsvorgänge resultiert
natürlich in erster Linie aus dem unmittelbaren Erleben
dieser Bewusstseinsvorgänge oder (wie wir dafür auch sagen
[>2]
können) aus der äusseren oder inneren Wahrnehmung. Für
das Studium der Gegenstände der äusseren Wahrnehmung
ist es vorteilhaft, wenn wir sie mit Aufmerksamkeit erleben.
Sie verändern sich unter dem Einfluss der Aufmerksamkeit
nicht. Dagegen ist die Richtung der Aufmerksamkeit auf
die Gegenstände der inneren Wahrnehmung von Übel, weil
diese unter dem Einfluss derAufmerksamkeit sich verändern
oder unter Umständen ganz aufgehoben werden1).
Da wir die Richtung der Aufmerksamkeit auf eine Erscheinung als
Beobachtung bezeichnen2 ), so dürfen wir auch sagen, die Be-
obachtungen äusserer Wahrnehmungen oder die äusseren Be-
obachtungen seien wissenschaftlich zweckmässig, die Beob-
achtungen der inneren Wahrnehmungen oder die inneren Be-
obachtungen seien wissenschaftlich unzweckmässig. Das Studium
unserer Erlebnisse hat sich daher auf die äussere
Beobachtung
und die innere Wahrnehmung zu stützen.
Äussere Beobachtung und innere Wahrnehmung sind
jedoch nicht unter allen Umständen für die Erkenntnis gleich-
wertig. Wenn wir ein und dasselbe Erlebnis öfters nach-
einander wahrnehmen oder beobachten, so sind wir offenbar
eher in der Lage über seine Natur Schlüsse zu ziehen,
als
wenn wir es nurgelegentlich erleben. Auch ist klar, dass,
wenn wir direkt nach einer Beobachtung oder Wahrnehmung
uns über ihre Natur Rechenschaft zu geben versuchen, wir
zu richtigeren Anschauungen gelangen, als wenn dies erst
viel
später geschieht. In vielen Fällen kann es sich empfehlen,
die äusseren Beobachtungenund die inneren Wahrnehmungen
mit der Anwendung technischer Hilfsmittel zu verbinden.
Dies geschiehtz. B., wennwir das Längenverhältnis zweier
1) Ältere Bemerkungen zu diesen in obiger Form nun wohl
nahezu Gemeingut gewordenen Ansichten siehe bei Volkelt, Zeitschr.
für
Philos. u. philos. Kritik. Bd. XC.(1887) p. 8f.
2) Wundt, Logik, 2. Aufl. II, 2p. 174. ÄhnlichErdmann, Archiv
f. syst. Philos. NeueFolge. I (1895) p. 17. [>3]
Strecken mit einem geeigneten Massstab feststellen oder wenn
wir den Ablauf unserer Vorstellungen dadurch studieren, dass
wir über dieselben Protokoll führen. Alle Wahrnehmungen
und Beobachtungen, welche in Verbindung mit technischen
Hilfsmitteln irgend welcher Art ausgeführt werden, wollen
wir als künstliche Wahrnehmungen oder Beobachtungen be-
zeichnen, im Gegensatz zu den anderen, welche natürliche
heissen sollen1).
Endlich kann die Kenntnis unserer Bewusstseinsvorgänge
dadurch gefördert werden, dass wir sie in ihremEintritt
oder Ablauf willkürlich beeinflussen. Die Wahrnehmungen
und Beobachtungen, bei welchen dies geschieht, wollen wir
als Experimente oder Versuche imweiteren SinnedesWortes
bezeichnen. EinExperimentin diesemSinneliegt schonvor,
wennwir eine Pflanze aus dem Boden entfernen. umihre
Wurzel zu betrachten, ein Tier in Gefangenschaft bringen,
umseine Lebensgewohnheiten zu beobachten, wenn wir
uns auf früher erlebte Vorgänge besinnen, umdie dabei
ablaufenden Bewusstseinsvorgänge zu studieren u. s. w.
Derartige Versuche sind nicht nurseit denältesten Zeiten
in der Wissenschaft üblich gewesen, sondern sie kommen
auch imgewöhnlichen Lebentäglich vor.— Wennmanaber
in der Wissenschaft von Experimentenspricht, so hat man
denVersuchin diesem weitesten Sinne gewöhnlich nicht vor
Auur<m.
Manmeint dann vielmehr diejenigen Wahrnehmungen
und Beobachtungen. die ich als Versuche im engeren Sinne
bezeichnen möchte. Ich verstehe unter Experiment im engeren
Sinne diejenige Beobachtung oder Wahrnehmung eines im
Eintritt oder Ablauf willkürlich beeinflussten Erlebnisses,
welche unter bekannten, künstlich variierbaren Bedingungen
stattfindet. Ein Experiment im engeren Sinne liegt beispiels-
weise vor, wenn wir die Abhängigkeit der Ausdehnung eines [>4]
1) Die hier als künstlieh bezeichneten Beobachtungen nennt Wunilt
exakte, vergl. Logik. Aufl. II, 1, p. 335.
Metallstabes von der Temperatur studieren. Wir geben
dann demMetallstab der Reihe nach verschiedene Tempera-
turen, umbei jeder einzelnen seine Ausdehnung mit Hilfe
eines Massstabes zu messen. Dabei tragen wir dafür Sorge,
dass die Temperaturin derZeit, während welcher wir die
Messung ausführen, möglichst konstant ist. Der zu be-
obachtende Gegenstand, der Metallstab, befindet sich also
bei diesem Versuch unter bekannter, künstlich variierbarer
Temperatur, also unter bekannten, künstlich variierbaren
Bedingungen. Wirhabenessomithierin derThatmit einem
Experiment im engeren Sinne zu thun1 ).
Experiment und künstliche Wahrnehmung oder Be-
obachtung können, müssen aber nichtmiteinanderverbunden
sein. In den genannten Versuchen im weiteren Sinne des
Wortesliegen keine künstlichen Wahrnehmungenbezw. Be-
obachtungen vor, wohl aber in demVersuch über die Ab-
hängigkeit der Ausdehnungder Metallstange von ihrer Tem-
peratur, dahierdieAusdehnungenmitHilfe eines Massstabes
beobachtet werden.
Das Experiment kann, ebenso wie die blosse künstliche
oder natürliche Beobachtung oder Wahrnehmung mehroder
weniger methodisch ausgeführt werden. Dabei nenne ich
Wahrnehmungen und Beobachtungen umso methodischer, je
mehr sie in einer Weise stattfinden, durch welche Fehler-
quellen ausgeschlossen oder unwirksam gemacht werden. In
vielen Fällen wird demnach offenbar die künstliche Beob-
achtungals methodischer angesehen werden müssen, wie die
natürliche. Allenthalbenist es zweckmässig, ein und dieselbe
Wahrnehmung oder Beobachtung unter gleichen oder even-
tuell auch unter verschiedenen Bedingungen mehrfach zu
]
1) Überdie Thatsache, dass das Experiment im weiteren Sinne
des Wortes von alters her in derPsychologie üblich war,
vergl. Elsenhans,
Selbstbeobachtung und Experimentin der Psychologie 1897 p.
39ff. und schonVolkmann, Lehrb. d. Psych. 2., 3. oder 4. Aufl.
Bd. I p. 44. [>5]
wiederholen, um sich davon zu überzeugen, ob sie in allen
Fällen gleichausfällt. Ist dies nicht derFall, somussmansich
aus der Gesamtheit der Wahrnehmungs- oder Beobachtungs-
resultate ein Bild über die wirklichen Vorgänge zu machen
suchen. Handelt es sich dabei um quantitative Untersuchungen,
sowerden die Fehler dadurch möglichst unwirksam gemacht,
dass
man als Resultat eine ideale, nicht wirkliche Wahrnehmung
oder Beobachtung betrachtet, welche aus den ursprünglichen,
thatsächlich gewonnenen abgeleitet ist. Dieselbe muss dann
durch eine Rechnung gewonnen werden, die je nach Art der
unwirksam zu machenden Fehler verschieden sein kann und
in einer Berechnung des arithmetischen Mittels, des wahr-
scheinlichen Mittels, des Centralwertes oderin anderen ähn-
lichen Verfahrungsweisen bestehen kann. Demnach muss
auch die öftere Wiederholung der Wahrnehmungen und Beobachtungen
als
methodisches Erfordernis bezeichnet werden.
— Die weiteren in ihrer Gesamtheit schwer übersehbaren
methodischenVorschriften gestalten sich vielfach je nach den
einzelnen Beobachtungsgebieten sehr verschieden."
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