Internet Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie
    (ISSN 1430-6972)
    IP-GIPTDAS=00.00.2008 Internet-Erstausgabe, letzte Änderung TMJ
    Impressum: Diplom-Psychologe Dr. phil. Rudolf Sponsel Stubenlohstr. 20 D-91052 Erlangen
    E-Mail: sekretariat@sgipt.org  _ Zitierung  &  Copyright
    Anfang
    _v-erleben_Datenschutz_Überblick__Rel. Beständiges _Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ English contents__ Service_iec-verlag__Dienstleistungs-Info * _ Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen

    Willkommen in unserer Internet-Publikation für Allgemeine und Integrative Psychotherapie, Abteilung Allgemeine Psychologie, Bereich Erleben, und hier speziell zum Thema:

    Erleben und Erlebnis bei Henri Bergson

    von Rudolf Sponsel, Erlangen

    Zur  Methode der Fundstellen-Textanalyse.  * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis



    Einführung in die Metaphysik
    erleben 2, erlebt 0, Erlebnis... 0



    Materie und Gedächtnis (1908)

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/materie/chap002.html
    Geht man dagegen von der Vorstellung selbst, das heißt von der Gesamtheit der wahrgenommenen Bilder aus, so klärt sich die Lage. Meine Wahrnehmung nimmt, wenn sie rein und von Gedächtnis frei ist, ihre Richtung nicht von meinem Körper auf die andern Körper, sondern sie ist von vornherein in der Gesamtheit der Körper, schließt sich allmählich zusammen und nimmt meinen Körper als Mittelpunkt. Sie kommt dazu eben durch die Erfahrung, daß dieser Körper zweierlei kann, Handlungen ausführen und Empfindungen BMG2e1erleben, mit andern Worten durch die Erfahrung der sensorisch-motorischen Kraft eines bestimmten, vor den andern ausgezeichneten Bildes. Dieses Bild steht nämlich einerseits immer im Mittelpunkt der Vorstellung, derart, daß die übrigen Bilder sich darum lagern, in der Ordnung, in der sie Objekt seiner Tätigkeit werden können; andererseits perzipiere ich dieses Bild von innen mit Hilfe affektiver BMG2E1Erlebnisse, die ich Empfindungen nenne, ich perzipiere bei ihm nicht nur die äußere Oberfläche, wie bei den übrigen Bildern. Ich finde also in der Gesamtheit der Bilder ein vor den andern bevorzugtes Bild, das in seiner Tiefe und nicht nur an seiner Oberfläche wahrgenommen wird, Sitz von Empfindungen und zugleich Quelle von Tätigkeit ist: dieses besondere Bild mache ich zum Mittelpunkt meines Universums und zur physischen Grundlage meiner Persönlichkeit.

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/materie/chap004.html
    Aber wenn unsere Vergangenheit uns deshalb fast gänzlich verborgen bleibt, weil sie durch die Erfordernisse der gegenwärtigen Tätigkeit gehemmt wird, wird sie ihre Kraft, die Schwelle des Bewußtseins zu überschreiten, in all den Fällen wiederfinden, wo wir uns von den Interessen unserer Tätigkeit loslösen, um uns gewissermaßen in das Leben des Traumes zurückzuversetzen. Der natürliche oder künstliche Schlaf erzeugt eine Loslösung dieser Art. Man hat jüngst in dem Schlafe eine Unterbrechung des Kontaktes zwischen den sensorischen und motorischen Nervenelementen nachgewiesen. Mathias Duval, Théorie histologique du sommeil (C.R. de la Soc. de Biologie 1895. S.74). Vgl. Lépine l.c. S.85 und Revue de Médecine Aug. 1894, und besonders Pupin, Le neurone et les hypothèses histologiques, Paris 1896. Wenn man sich auch nicht für diese scharfsinnige Hypothese entscheidet, so ist es doch unmöglich, im Schlafe nicht eine wenigstens funktionelle Erschlaffung der Spannung des Nervensystems zu sehen, das im Wachen immer bereit ist, den empfangenen Reiz zu einer angepaßten Reaktion fortzusetzen. Nun ist die »Exaltation« des Gedächtnisses in gewissen Träumen und gewissen somnambulen Zuständen eine alltägliche Beobachtung. Erinnerungen, die man erledigt glaubte, kehren dann mit auffallender Genauigkeit wieder; wir BMG4e2erleben gänzlich vergessene Szenen aus der Kindheit mit allen Einzelheiten wieder; wir sprechen Sprachen, die wir uns nicht einmal mehr erinnern gelernt zu haben. Aber nichts Lehrreicheres gibt es in dieser Hinsicht als was sich in manchen Fällen plötzlicher Erstickung, bei Ertrinkenden und Erhängten zuträgt. Die wie der zum Leben gebrachte Person erklärt, daß sie in der kurzen Zeit alle vergessenen Begebenheiten ihres Daseins mit ihren kleinsten Umständen und in derselben Ordnung, in der sie sich zugetragen haben, an sich hat vorüberziehen sehen. Winslow, Obscure Diseases of the Brain, S.250 ff. – Ribot, Maladies de la Mémoire, S.139 ff. – Maury, Le sommeil et les rêves, Paris 1878, S.439. – Egger, Le moi des mourants. (Revue Philosophique, Jan. und Okt. 1896.) Vgl. den Satz von Ball: »Das Gedächtnis ist eine Fähigkeit, welche nichts verliert und alles registriert«. (Zit. von Rouillard: Les amnésies, Thèse de médecine. Paris 1885, S.25.)

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/materie/chap005.html
    Verweilen wir einen Augenblick bei diesem letzten Punkte, den wir schon früher flüchtig berührten, den wir aber für wesentlich halten. Die von unserem Bewußtsein BMG5e1erlebte Dauer ist eine Dauer mit bestimmtem Rhythmus, ganz verschieden von der Zeit, von welcher der Physiker spricht und welche in einem gegebenen Intervall eine beliebige Anzahl Erscheinungen in sich aufspeichern kann. In dem Zeitraum einer Sekunde vollführt das rote Licht – welches die größte Wellenlänge hat und dessen Schwingungen infolgedessen die wenigst zahlreichen sind – 400 Billionen aufeinanderfolgende Schwingungen. Wollte man sich eine Vorstellung von dieser Zahl machen, dann müßte man diese Schwingungen so weit voneinander entfernen können, daß unser Bewußtsein sie zählen oder wenigstens ihre Aufeinanderfolge ausdrücklich unterscheiden könnte, und dann hätte man herauszufinden, wie viele Tage, Monate oder Jahre diese Aufeinanderfolge in Anspruch nehmen würde. Nun ist das kleinste Intervall der leeren Zeit, das uns zum Bewußtsein kommt, nach Exner zwei Tausendstel einer Sekunde; und dabei ist es noch zweifelhaft, ob wir mehrere so kurze Intervalle hintereinander wahrnehmen können. Nehmen wir aber an, daß wir es bis ins Unendliche könnten. Mit einem Wort, stellen wir uns ein Bewußtsein vor, welches 400 Billionen Schwingungen an sich vorüberziehen lassen könnte, jede Schwingung augenblicklich und jede von der folgenden nur durch die zweitausendstel Sekunde getrennt, die nötig ist, um sie zu unterscheiden. Eine sehr einfache Rechnung ergibt, daß es zur Ausführung dieses Vorhabens mehr als 25 000 Jahre bedarf. So würde also diese Empfindung des roten Lichtes, welche wir in einer Sekunde BMG5e2erleben, an sich einer Reihe von Phänomen entsprechen, welche, auch wenn wir sie zeitlich so knapp wie möglich in unserer Dauer aufrollten, mehr als 250 Jahrhunderte unserer Geschichte in Anspruch nehmen würden. Ist das denkbar? Man muß hier unterscheiden zwischen unserer eigenen Dauer und der Zeit im allgemeinen. In unserer Dauer, welche von unserem Bewußtsein wahrgenommen wird, kann ein gegebenes Intervall nur eine beschränkte Anzahl bewußter Phänomen enthalten. Können wir uns vorstellen, daß dieser Inhalt sich vergrößert, und wenn wir von einer unendlich teilbaren Zeit sprechen, kann es dann wohl diese Dauer sein, die wir meinen?

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/materie/chap005.html
    Sie ist nicht unsere Dauer, gewiß nicht; aber sie ist ebensowenig jene unpersönliche homogene Dauer, welche, für alle und jeden gleich, gleichgültig und leer außerhalb des Dauernden abläuft. Diese angeblich homogene Zeit ist, wie wir in einer anderen Schrift nachzuweisen versuchten, ein Trugbild der Sprache, eine Fiktion, deren Ursprung leicht aufzufinden ist. In Wirklichkeit gibt es keinen durchgehenden Rhythmus der Dauer; man kann sich sehr verschiedene Rhythmen vorstellen, langsamere oder schnellere, welche jeweils dem Grad der Spannung oder Entspannung der Bewußtseine entsprechen und ihnen dadurch ihren Platz in der Reihe der Wesen anweisen. Diese Vorstellung von Dauern ungleicher Elastizität fällt vielleicht unserem Geiste schwer, der die nützliche Gewohnheit angenommen hat, der wahren, vom Bewußtsein BMG5e1erlebten Dauer eine homogene und selbständige Zeit unterzuschieben; aber erstens ist, wie wir nachgewiesen haben, die Täuschung leicht aufzudecken, welche eine solche Vorstellung schwierig macht, und zweitens hat diese Idee im Grunde die stillschweigende Billigung unseres Bewußtseins. BMG5e2Erleben wir es nicht während unseres Schlafes, daß wir gleichzeitig zwei verschiedene Personen in uns wahrnehmen, eine, die einige Minuten schläft, während der Traum der anderen Tage und Wochen in Anspruch nimmt? Und würde nicht die ganze Weltgeschichte für ein gespannteres Bewußtsein als das unsrige ist, ein Bewußtsein, das der Entwicklung der Menschheit beiwohnen könnte, indem es sie sozusagen in große Phasen zusammenzöge, in einer sehr kurzen Zeitspanne enthalten sein? Wahrnehmen besteht also letzten Endes darin, ungeheure Perioden einer unendlich verdünnten Existenz in wenige Augenblicke differenzierteren und intensiveren Lebens zu verdichten und so eine sehr lange Geschichte zusammenzufassen. Wahrnehmen heißt unbeweglich machen
     

    Das Lachen (1914)
    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/lachen/chap003.html
    Das Eigentümliche einer mechanischen Kombination ist, daß sie im allgemeinen umkehrbar ist. Es macht einem Kinde Spaß, zu sehen, wie eine losgeschnellte Kugel unterwegs immer mehr Verwüstungen unter den aufgestellten Kegelchen anrichtet; es lacht noch mehr, wenn die Kugel nach vielen Wendungen, Abwegen, Zögerungen aller Art an ihren Ausgangspunkt zurückkehrt. Mit anderen Worten: der Mechanismus, den wir soeben beschrieben haben, ist schon komisch, wenn er gradlinig wirkt; er ist es noch mehr, wenn er kreisförmig wird und wenn infolge einer verhängnisvollen Verkettung von Ursachen und Wirkungen alle Anstrengungen des Menschen einfach darauf hinauslaufen, daß er sich schließlich an ebendemselben Platze wiederfindet. Sehr viele Schwanke haben in dieser Idee ihren Schwerpunkt. Ein Pferd hat einen Florentiner Strohhut aufgefressen. In ganz Paris gibt es einen einzigen ähnlichen Hut, den man auf jeden Fall haben muß. Der Hut entwischt jedesmal in dem Augenblick, wo man ihn zu haben glaubt, die Hauptperson läuft hinter ihm her und setzt alles, was mit ihr zusammenhängt, ebenfalls in Bewegung: so wie sich die Anziehungskraft des Magnets immer weiter erstreckt und ein Eisenteilchen das andere an sich zieht. Und als man schließlich nach vielen Zwischenfällen am Ziel zu sein glaubt, findet sich, daß der heißersehnte Hut jener selbe ist, den das Pferd gefressen hatte. Dieselbe Odyssee BL3e1erleben wir in einer andern, nicht weniger berühmten Komödie von Labiche. Wir sehen zunächst einen Junggesellen und eine alte Jungfer, die alte Bekannte sind, bei ihrem täglichen Kartenspiel. Beide haben sich heimlich an das gleiche Heiratsbureau gewandt. Durch tausend Schwierigkeiten, von Mißgeschick zu Mißgeschick gehen sie nebeneinander während des ganzen Stückes der Zusammenkunft entgegen, wo eines verblüfft das andere vorfindet. In derselben Weise schließt sich der Kreis durch Zurückgelangen auf den Ausgangspunkt in einem neueren Stücke. Ein bedrängter Gatte glaubt seiner Frau und seiner Schwiegermutter durch die Scheidung zu entkommen. Er verheiratet sich wieder; und schon beschert ihm das Wechselspiel von Scheidung und Heirat seine frühere Frau in schlimmerer Gestalt als neue Schwiegermutter.

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/lachen/chap003.html
    Wir verstehen jetzt wohl, warum diejenigen Autoren, die über den Witz gehandelt haben, sich darauf beschränken mußten, die außerordentliche Kompliziertheit dieses Begriffes festzustellen, ohne ihn je recht definieren zu können. Es gibt sehr viele Weisen, witzig zu sein, fast ebensoviele, wie es nicht zu sein. Wie kann man erkennen, was sie unter sich gemein haben, wenn man nicht zuerst das allgemeine Verhältnis zwischen dem Witzigen und Komischen bestimmt? Ist aber einmal dieses Verhältnis klar, so hellt sich alles auf. Zwischen dem Komischen und dem Witzigen findet dann dasselbe Verhältnis statt wie zwischen einer ganzen Szene und der flüchtigen Andeutung einer möglichen Szene. Soviel Formen das Komische annehmen kann, soviel entsprechende Formen wird auch der Witz haben. Zuerst muß man also das Komische in allen seinen Formen zu bestimmen suchen, indem man – was schon schwierig genug ist – den Faden auffindet, der von einer Form zur andern leitet. Denn dadurch hat man auch das Witzige analysiert, das dann nichts weiter ist als verflüchtigte Komik. Aber den umgekehrten Weg gehen, direkt die Formel für den Witz suchen, das heißt einen sicheren Mißerfolg BL3e2erleben wollen. Was würde man von einem Chemiker denken, der in seinem Laboratorium die Stoffe selbst zur Verfügung hätte, und der es vorzöge, sie im Zustand bloßer Spuren in der Atmosphäre zu untersuchen!

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/lachen/chap004.html
    Aber wie fängt es der komische Dichter an, wenn er vermeiden will, daß mein Gefühl erregt wird? Die Frage ist schwierig. Um sie ganz klar zu legen, müßte man sich in eine ziemlich neue Art von Untersuchungen einlassen, müßte die künstliche Sympathie analysieren, die wir fürs Theater mitbringen, müßte feststellen, in welchen Fällen wir an erdachten Freuden und Leiden teilnehmen, und in welchen nicht. Es gibt eine bestimmte Kunst, unser Gefühl einzuschläfern, um es wie einen Hypnotisierten für Träume empfänglich zu machen. Es gibt auch eine Kunst, die darin besteht, daß unsere Sympathie gerade in dem Augenblicke, wo sie sich regen könnte, entmutigt wird, so daß die Situation, obschon sie ernst ist, nicht ernst genommen wird. Zwei Methoden scheinen mir in dieser letzten Kunst vorzuherrschen, die der komische Dichter mehr oder minder unbewußt anwendet. Die erste besteht darin, daß in der Seele der dargestellten Person eine bestimmte Empfindung isoliert und ihr eine sozusagen parasitäre, selbständige Existenz verliehen wird. Im allgemeinen ergreift eine intensive Empfindung nach und nach alle andern seelischen Zustände und taucht sie in die ihr eigene Färbung: läßt man uns alsdann diese allmähliche Imprägnation BL4e1miterleben, so werden wir schließlich allmählich auch von einem entsprechenden Gefühl imprägniert. Man könnte sagen – um ein anderes Bild zu gebrauchen –, daß eine Gemütsbewegung dramatisch ist, sich mitteilt, wenn mit dem Grundton zugleich alle Obertöne gegeben werden. Weil der Darsteller so in seiner Totalität schwingt, kann auch das Publikum in Schwingung geraten. Umgekehrt ist in der Gemütsbewegung, die uns kühl läßt und die komisch wirken wird, immer eine Starrheit, die verhindert, daß sie mit dem ganzen Komplex der Seele, der sie zugehört, in Verbindung tritt. Diese Starrheit kann sich im gegebenen Momente durch hölzerne Bewegungen oder etwas ähnliches verraten und dadurch unser Gelächter reizen, aber schon vorher wiederstrebt sie unserer Sympathie: wie kann man sich mit einer Seele in Einklang bringen, die mit sich selbst nicht in Einklang ist? Im Avare ist eine Szene, die ans Drama streift. Das ist die, wo der Schuldner und der Wucherer, die sich bis dahin nie gesehen haben, sich Auge in Auge gegenüberstehen und sich als Sohn und Vater erkennen. Wir wären hier wirklich in einem Drama, wenn der Geiz und das Vatergefühl, die in Harpagon aufeinanderstoßen, eine mehr oder minder originelle Verbindung eingingen. Aber keineswegs. Kaum hat der Auftritt ein Ende, so hat der Vater alles vergessen. Als er den Sohn wieder trifft, erwähnt er diesen ernsten Auftritt kaum: »Und du, mein Sohn, dem ich die Güte habe die Geschichte von eben zu verzeihen, usw.«. Der Geiz ist also neben dem übrigen hergegangen, ohne sich damit zu berühren, ohne jede Gemeinschaft, gewissermaßen in Zerstreutheit. Wenn er sich auch in der Seele eingenistet hat, wenn er auch Herr des Hauses geworden ist, er bleibt trotzdem ein Fremdling. Ganz anders wäre es bei einem Geiz tragischer Natur. Da würde man sehen, wie er die verschiedenen Seelenkräfte an sich zieht, sie absorbiert und, indem er sie umbildet, assimiliert: Gefühle und Affekte, Wünsche und Abneigungen, Laster und Tugenden, all das würde für den Geiz ein Stoff, dem er eine neue Art Leben einhauchen würde. Das ist, wie mir scheint, der erste wesentliche Unterschied zwischen dem guten Lustspiel und dem ernsten Drama.

    https://www.projekt-gutenberg.org/bergson/lachen/chap004.html
    Der tragische Dichter, möchte ich sagen, so paradox diese Behauptung auf den ersten Blick scheinen kann, hat nicht nötig, andere Menschen zu beobachten. Erstens finden wir ja, daß sehr große Dichter ein sehr zurückgezogenes, sehr bürgerliches Leben geführt haben, das ihnen keine Gelegenheit bot, in ihrer Umgebung die Leidenschaften, die sie uns so getreu beschrieben haben, sich entfesseln zu sehen. Aber auch angenommen, sie hätten dieses Schauspiel gehabt, ich glaube nicht, daß es besonders viel Zweck für sie gehabt hätte. Was uns in ihren Werken interessiert, ist der Einblick in gewisse tiefliegende Seelenzustände oder rein innerliche Konflikte. Und dieser Einblick läßt sich nicht durch Beobachtung der Außenwelt gewinnen. Seelen sind nicht durchsichtig. Äußerlich nehmen wir immer nur Zeichen der Leidenschaft wahr. Wir interpretieren sie nur – übrigens immer ungenügend – nach Analogie unseres eignen BL4e2Erlebens. Unser eigenes BL4e3Erleben bleibt die Hauptsache, nur unser eigenes Herz kennen wir von Grund aus – wenn wir es kennen. Also hat der Dichter BL4e4erlebt, was er beschreibt, alle Seelenlagen seiner Helden durchgemacht und ihr ganzes Innenleben selber gelebt? Auch hier würden uns die Lebensbeschreibungen der Dichter eines anderen belehren. Wie soll man sich auch vorstellen, daß ein und derselbe Mensch Macbeth, Othello, Hamlet, König Lear und noch viele andere gewesen ist? Vielleicht muß man unterscheiden zwischen der Persönlichkeit, die man ist, und allen denen, die man hätte sein können. Unser Charakter ist die Folge von lauter einzelnen Entscheidungen. Immer wieder kommen auf unserer Bahn – zum mindesten scheinbar – Kreuzwege, wir sehen viele mögliche Richtungen, ob wir auch nur einer einzigen folgen können. Auf den alten Weg zurückzukehren, aber alle geahnten anderen Richtungen bis zu Ende zu verfolgen, darin scheint mir recht eigentlich das Wesen der dichterischen Phantasie zu liegen. Shakespeare ist gewiß weder Macbeth noch Hamlet noch Othello gewesen; aber er wäre diese verschiedenen Personen gewesen, wenn einerseits die Umstände und andererseits sein eigener Wille die Triebe und Kräfte losgebunden hätten, die bei ihm ins Innere zurückgedämmt waren. Schlecht versteht man sich auf die Rolle, die die dichterische Phantasie spielt, wenn man glaubt, sie setze ihre Helden aus links und rechts vom Wege aufgelesenen Fetzen zusammen, wie um ein Narrenkleid zu flicken. Daraus ginge nichts Lebendiges hervor. Das Leben läßt sich nicht künstlich zusammensetzen. Bloß anschauen läßt es sich. Und die dichterische Phantasie kann nichts anderes sein als eine totalere Anschauung der Wirklichkeit. Wenn uns die Personen, die der Dichter schafft, den Eindruck des Lebens machen, so tun sies, weil sie der Dichter selbst sind, der Dichter, der sich vervielfältigt hat, der in tiefster Selbstbeobachtung sein eigenes BL4e5Erleben so mächtig erfaßt, daß er des Latenten hinter dem Wirklichen Herr wird und, um ein rundes volles Werk zu schaffen, alles wieder aufnimmt, was die Natur in ihm im Keimzustand bloßer Pläne ließ.
     
     



    Literatur (Auswahl)
    https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/bergson.html
     
    • Bergson, Henri (1889: Essai sur les donées immédiates de la conscience. Alcan, Paris OCLC 409378290 (Thèse lettres Université Paris 1889) Online
    • Bergson, Henri (Zeit und Freiheit. Übers. Paul Fohr. Diederichs Verlag, Jena 1911, Nachdruck mit einem Nachwort von Konstantinos P. Romanòs, Athenäum, Frankfurt 1989, weitere Nachdrucke: Philo, Berlin 2006 ISBN 3-86572-539-2; EVA-Taschenbuch 2012, ISBN 978-3-86393-020-2
    • Bergson, Henri (1896: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit. Alcan, Paris Online. Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist. Übers. Julius Frankenberger. Diederichs, Jena 1908, Nachdruck dieser Übersetzung mit einer Einleitung von Erik Oger, Felix Meiner Verlag, Hamburg 1991
    • Bergson, Henri (1900: Le rire. Essai sur la signification du comique. Alcan, Paris Online durch Université du Québec à Chicoutimi
    • Bergson, Henri (Das Lachen. Übers. Julius Frankenberger, Walter Fränzel. Diederichs, Jena 1921.   Das Lachen. Ein Essai über die Bedeutung des Komischen. Übers. Roswitha Plancherel-Walter. Arche, Zürich 1972; wieder Luchterhand, Darmstadt 1988; wieder Meiner, Hamburg 2011
    • Bergson, Henri (1903: Introduction à la métaphysique. In: Revue de métaphysique et de morale 11/1:1 (1903), S. 1–36. Einführung in die Metaphysik. Autorisierte Übertragung. Eugen Diederichs, Jena 1920
    • Bergson, Henri (1907: L’Evolution créatrice. Alcan, Paris Online. Schöpferische Entwicklung. Übers. Gertrud Kantorowicz. Diederichs, Jena 1921, wieder Coron-Verlag, Zürich, als Band für das Jahr 1927 der Reihe Nobelpreis für Literatur. Online. Neue Übers. Margarethe Drewsen: Schöpferische Evolution. Felix Meiner, Hamburg 2013 ISBN 978-3-7873-2240-4 (Rezension).
    • Bergson, Henri (1919: L’Energie spirituelle. Essais et conférences. Alcan, Paris Online. Die seelische Energie. Aufsätze und Vorträge. Übers. Eugen Lerch. Diederichs, Jena 1928
    • Bergson, Henri (1922: Durée et simultanéité. A propos de la théorie d’Einstein. Alcan, Paris Online
    • Bergson, Henri (1932: Les deux sources de la morale et de la religion. Alcan, Paris Online. Die beiden Quellen der Moral. Übers. Eugen Lerch. Diederichs, Jena 1932; wieder Fischer, Frankfurt am Main 1992 u. ö.
    • Bergson, Henri (1934: La pensée et le mouvant. Essais et conférences. Alcan, Paris Online.     Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge. Übers. Leonore Kottje; Einl. Friedrich Kottje, Hain, Meisenheim am Glan 1948; Nachdrucke: Signet, Frankfurt 1985; Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1993
    • Bergson, Henri (1959: Œuvres. Anm. von André Robinet, Einleitung Henri Gouhier. Presses Universitaires de France, Paris (enthält sämtliche zu Lebzeiten in Buchform veröffentlichten Texte außer Durée et simultanéité)
    • Bergson, Henri (1972: Mélanges. Anmerkungen von André Robinet, in Zusammenarbeit mit Rose-Marie Mossé-Bastide, Martine Robinet und Michel Gauthier; Vorwort Henri Gouhier. Presses Universitaires de France, Paris (enthält Durée et simultanéité sowie zahlreiche Texte, die von Bergson nicht in Buchform veröffentlicht wurden)




    Links(Auswahl: beachte)
    https://www.projekt-gutenberg.org/autoren/namen/bergson.html
    Creative Evolution [GB]
     



    Glossar, Anmerkungen und Endnoten:
    GIPT= General and Integrative Psychotherapy, internationale Bezeichnung für Allgemeine und Integrative Psychotherapie.
    ___


    Querverweise
    Standort: v-erleben.
    Haupt- und Verteilerseite Die Erforschung des Erlebens und der Erlebnisse
    Zur  Methode der Fundstellen-Textanalyse.  * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis
     

    *

    Suchen in der IP-GIPT, z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff> site:www.sgipt.org
    z.B. Inhaltsverzeichnis site:www.sgipt.org. 
    *
    Dienstleistungs-Info.
    *

    Zitierung
    Sponsel, Rudolf  (DAS). v_erleben. IP-GIPT. Erlangen: https://www.sgipt.org/gipt/erleben/v_GIPT.htm

    Copyright & Nutzungsrechte
    Diese Seite darf von jeder/m in nicht-kommerziellen Verwertungen frei aber nur original bearbeitet und nicht  inhaltlich verändert und nur bei vollständiger Angabe der Zitierungs-Quelle benutzt werden. Das direkte, zugriffsaneignende Einbinden in fremde Seiten oder Rahmen ist nicht gestattet, Links und Zitate sind natürlich willkommen. Sofern die Rechte anderer berührt sind, sind diese dort zu erkunden. Sollten wir die Rechte anderer unberechtigt genutzt haben, bitten wir um Mitteilung. Soweit es um (längere) Zitate aus  ...  geht, sind die Rechte bei/m ... zu erkunden oder eine Erlaubnis einzuholen.


    __Ende_v-erleben__Datenschutz_Überblick__Rel. Beständiges _Titelblatt_ Konzept_ Archiv_ Region_ English contents__ Service_iec-verlag__Dienstleistungs-Info * Mail:sekretariat@sgipt.org_ _ Wichtige Hinweise zu Links und Empfehlungen

    korrigiert:





    Änderungen wird gelegentlich überarbeitet, ergänzt und vertieft * Anregungen und Kritik willkommen
    00.00.00