Erleben und Erlebnis bei Henri Bergson
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zur Methode der Fundstellen-Textanalyse. * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis
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Geht man dagegen von der Vorstellung selbst, das heißt von der
Gesamtheit der wahrgenommenen Bilder aus, so klärt sich die Lage.
Meine Wahrnehmung nimmt, wenn sie rein und von Gedächtnis frei ist,
ihre Richtung nicht von meinem Körper auf die andern Körper,
sondern sie ist von vornherein in der Gesamtheit der Körper, schließt
sich allmählich zusammen und nimmt meinen Körper als Mittelpunkt.
Sie kommt dazu eben durch die Erfahrung, daß dieser Körper zweierlei
kann, Handlungen ausführen und Empfindungen BMG2e1erleben,
mit andern Worten durch die Erfahrung der sensorisch-motorischen Kraft
eines bestimmten, vor den andern ausgezeichneten Bildes. Dieses Bild steht
nämlich einerseits immer im Mittelpunkt der Vorstellung, derart, daß
die übrigen Bilder sich darum lagern, in der Ordnung, in der sie Objekt
seiner Tätigkeit werden können; andererseits perzipiere ich dieses
Bild von innen mit Hilfe affektiver BMG2E1Erlebnisse,
die ich Empfindungen nenne, ich perzipiere bei ihm nicht nur die äußere
Oberfläche, wie bei den übrigen Bildern. Ich finde also in der
Gesamtheit der Bilder ein vor den andern bevorzugtes Bild, das in seiner
Tiefe und nicht nur an seiner Oberfläche wahrgenommen wird, Sitz von
Empfindungen und zugleich Quelle von Tätigkeit ist: dieses besondere
Bild mache ich zum Mittelpunkt meines Universums und zur physischen Grundlage
meiner Persönlichkeit.
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Aber wenn unsere Vergangenheit uns deshalb fast gänzlich verborgen
bleibt, weil sie durch die Erfordernisse der gegenwärtigen Tätigkeit
gehemmt wird, wird sie ihre Kraft, die Schwelle des Bewußtseins zu
überschreiten, in all den Fällen wiederfinden, wo wir uns von
den Interessen unserer Tätigkeit loslösen, um uns gewissermaßen
in das Leben des Traumes zurückzuversetzen. Der natürliche oder
künstliche Schlaf erzeugt eine Loslösung dieser Art. Man hat
jüngst in dem Schlafe eine Unterbrechung des Kontaktes zwischen den
sensorischen und motorischen Nervenelementen nachgewiesen. Mathias Duval,
Théorie histologique du sommeil (C.R. de la Soc. de Biologie 1895.
S.74). Vgl. Lépine l.c. S.85 und Revue de Médecine Aug. 1894,
und besonders Pupin, Le neurone et les hypothèses histologiques,
Paris 1896. Wenn man sich auch nicht für diese scharfsinnige Hypothese
entscheidet, so ist es doch unmöglich, im Schlafe nicht eine wenigstens
funktionelle Erschlaffung der Spannung des Nervensystems zu sehen, das
im Wachen immer bereit ist, den empfangenen Reiz zu einer angepaßten
Reaktion fortzusetzen. Nun ist die »Exaltation« des Gedächtnisses
in gewissen Träumen und gewissen somnambulen Zuständen eine alltägliche
Beobachtung. Erinnerungen, die man erledigt glaubte, kehren dann mit auffallender
Genauigkeit wieder; wir BMG4e2erleben
gänzlich vergessene Szenen aus der Kindheit mit allen Einzelheiten
wieder; wir sprechen Sprachen, die wir uns nicht einmal mehr erinnern gelernt
zu haben. Aber nichts Lehrreicheres gibt es in dieser Hinsicht als was
sich in manchen Fällen plötzlicher Erstickung, bei Ertrinkenden
und Erhängten zuträgt. Die wie der zum Leben gebrachte Person
erklärt, daß sie in der kurzen Zeit alle vergessenen Begebenheiten
ihres Daseins mit ihren kleinsten Umständen und in derselben Ordnung,
in der sie sich zugetragen haben, an sich hat vorüberziehen sehen.
Winslow, Obscure Diseases of the Brain, S.250 ff. – Ribot, Maladies de
la Mémoire, S.139 ff. – Maury, Le sommeil et les rêves, Paris
1878, S.439. – Egger, Le moi des mourants. (Revue Philosophique, Jan. und
Okt. 1896.) Vgl. den Satz von Ball: »Das Gedächtnis ist eine
Fähigkeit, welche nichts verliert und alles registriert«. (Zit.
von Rouillard: Les amnésies, Thèse de médecine. Paris
1885, S.25.)
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Verweilen wir einen Augenblick bei diesem letzten Punkte, den wir schon
früher flüchtig berührten, den wir aber für wesentlich
halten. Die von unserem Bewußtsein BMG5e1erlebte
Dauer ist eine Dauer mit bestimmtem Rhythmus, ganz verschieden von der
Zeit, von welcher der Physiker spricht und welche in einem gegebenen Intervall
eine beliebige Anzahl Erscheinungen in sich aufspeichern kann. In dem Zeitraum
einer Sekunde vollführt das rote Licht – welches die größte
Wellenlänge hat und dessen Schwingungen infolgedessen die wenigst
zahlreichen sind – 400 Billionen aufeinanderfolgende Schwingungen. Wollte
man sich eine Vorstellung von dieser Zahl machen, dann müßte
man diese Schwingungen so weit voneinander entfernen können, daß
unser Bewußtsein sie zählen oder wenigstens ihre Aufeinanderfolge
ausdrücklich unterscheiden könnte, und dann hätte man herauszufinden,
wie viele Tage, Monate oder Jahre diese Aufeinanderfolge in Anspruch nehmen
würde. Nun ist das kleinste Intervall der leeren Zeit, das uns zum
Bewußtsein kommt, nach Exner zwei Tausendstel einer Sekunde; und
dabei ist es noch zweifelhaft, ob wir mehrere so kurze Intervalle hintereinander
wahrnehmen können. Nehmen wir aber an, daß wir es bis ins Unendliche
könnten. Mit einem Wort, stellen wir uns ein Bewußtsein vor,
welches 400 Billionen Schwingungen an sich vorüberziehen lassen könnte,
jede Schwingung augenblicklich und jede von der folgenden nur durch die
zweitausendstel Sekunde getrennt, die nötig ist, um sie zu unterscheiden.
Eine sehr einfache Rechnung ergibt, daß es zur Ausführung dieses
Vorhabens mehr als 25 000 Jahre bedarf. So würde also diese Empfindung
des roten Lichtes, welche wir in einer Sekunde BMG5e2erleben,
an sich einer Reihe von Phänomen entsprechen, welche, auch wenn wir
sie zeitlich so knapp wie möglich in unserer Dauer aufrollten, mehr
als 250 Jahrhunderte unserer Geschichte in Anspruch nehmen würden.
Ist das denkbar? Man muß hier unterscheiden zwischen unserer eigenen
Dauer und der Zeit im allgemeinen. In unserer Dauer, welche von unserem
Bewußtsein wahrgenommen wird, kann ein gegebenes Intervall nur eine
beschränkte Anzahl bewußter Phänomen enthalten. Können
wir uns vorstellen, daß dieser Inhalt sich vergrößert,
und wenn wir von einer unendlich teilbaren Zeit sprechen, kann es dann
wohl diese Dauer sein, die wir meinen?
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Sie ist nicht unsere Dauer, gewiß nicht; aber sie ist ebensowenig
jene unpersönliche homogene Dauer, welche, für alle und jeden
gleich, gleichgültig und leer außerhalb des Dauernden abläuft.
Diese angeblich homogene Zeit ist, wie wir in einer anderen Schrift nachzuweisen
versuchten, ein Trugbild der Sprache, eine Fiktion, deren Ursprung leicht
aufzufinden ist. In Wirklichkeit gibt es keinen durchgehenden Rhythmus
der Dauer; man kann sich sehr verschiedene Rhythmen vorstellen, langsamere
oder schnellere, welche jeweils dem Grad der Spannung oder Entspannung
der Bewußtseine entsprechen und ihnen dadurch ihren Platz in der
Reihe der Wesen anweisen. Diese Vorstellung von Dauern ungleicher Elastizität
fällt vielleicht unserem Geiste schwer, der die nützliche Gewohnheit
angenommen hat, der wahren, vom Bewußtsein BMG5e1erlebten
Dauer eine homogene und selbständige Zeit unterzuschieben; aber erstens
ist, wie wir nachgewiesen haben, die Täuschung leicht aufzudecken,
welche eine solche Vorstellung schwierig macht, und zweitens hat diese
Idee im Grunde die stillschweigende Billigung unseres Bewußtseins.
BMG5e2Erleben
wir es nicht während unseres Schlafes, daß wir gleichzeitig
zwei verschiedene Personen in uns wahrnehmen, eine, die einige Minuten
schläft, während der Traum der anderen Tage und Wochen in Anspruch
nimmt? Und würde nicht die ganze Weltgeschichte für ein gespannteres
Bewußtsein als das unsrige ist, ein Bewußtsein, das der Entwicklung
der Menschheit beiwohnen könnte, indem es sie sozusagen in große
Phasen zusammenzöge, in einer sehr kurzen Zeitspanne enthalten sein?
Wahrnehmen besteht also letzten Endes darin, ungeheure Perioden einer unendlich
verdünnten Existenz in wenige Augenblicke differenzierteren und intensiveren
Lebens zu verdichten und so eine sehr lange Geschichte zusammenzufassen.
Wahrnehmen heißt unbeweglich machen
Das Lachen (1914)
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Das Eigentümliche einer mechanischen Kombination ist, daß
sie im allgemeinen umkehrbar ist. Es macht einem Kinde Spaß, zu sehen,
wie eine losgeschnellte Kugel unterwegs immer mehr Verwüstungen unter
den aufgestellten Kegelchen anrichtet; es lacht noch mehr, wenn die Kugel
nach vielen Wendungen, Abwegen, Zögerungen aller Art an ihren Ausgangspunkt
zurückkehrt. Mit anderen Worten: der Mechanismus, den wir soeben beschrieben
haben, ist schon komisch, wenn er gradlinig wirkt; er ist es noch mehr,
wenn er kreisförmig wird und wenn infolge einer verhängnisvollen
Verkettung von Ursachen und Wirkungen alle Anstrengungen des Menschen einfach
darauf hinauslaufen, daß er sich schließlich an ebendemselben
Platze wiederfindet. Sehr viele Schwanke haben in dieser Idee ihren Schwerpunkt.
Ein Pferd hat einen Florentiner Strohhut aufgefressen. In ganz Paris gibt
es einen einzigen ähnlichen Hut, den man auf jeden Fall haben muß.
Der Hut entwischt jedesmal in dem Augenblick, wo man ihn zu haben glaubt,
die Hauptperson läuft hinter ihm her und setzt alles, was mit ihr
zusammenhängt, ebenfalls in Bewegung: so wie sich die Anziehungskraft
des Magnets immer weiter erstreckt und ein Eisenteilchen das andere an
sich zieht. Und als man schließlich nach vielen Zwischenfällen
am Ziel zu sein glaubt, findet sich, daß der heißersehnte Hut
jener selbe ist, den das Pferd gefressen hatte. Dieselbe Odyssee BL3e1erleben
wir in einer andern, nicht weniger berühmten Komödie von Labiche.
Wir sehen zunächst einen Junggesellen und eine alte Jungfer, die alte
Bekannte sind, bei ihrem täglichen Kartenspiel. Beide haben sich heimlich
an das gleiche Heiratsbureau gewandt. Durch tausend Schwierigkeiten, von
Mißgeschick zu Mißgeschick gehen sie nebeneinander während
des ganzen Stückes der Zusammenkunft entgegen, wo eines verblüfft
das andere vorfindet. In derselben Weise schließt sich der Kreis
durch Zurückgelangen auf den Ausgangspunkt in einem neueren Stücke.
Ein bedrängter Gatte glaubt seiner Frau und seiner Schwiegermutter
durch die Scheidung zu entkommen. Er verheiratet sich wieder; und schon
beschert ihm das Wechselspiel von Scheidung und Heirat seine frühere
Frau in schlimmerer Gestalt als neue Schwiegermutter.
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Wir verstehen jetzt wohl, warum diejenigen Autoren, die über den
Witz gehandelt haben, sich darauf beschränken mußten, die außerordentliche
Kompliziertheit dieses Begriffes festzustellen, ohne ihn je recht definieren
zu können. Es gibt sehr viele Weisen, witzig zu sein, fast ebensoviele,
wie es nicht zu sein. Wie kann man erkennen, was sie unter sich gemein
haben, wenn man nicht zuerst das allgemeine Verhältnis zwischen dem
Witzigen und Komischen bestimmt? Ist aber einmal dieses Verhältnis
klar, so hellt sich alles auf. Zwischen dem Komischen und dem Witzigen
findet dann dasselbe Verhältnis statt wie zwischen einer ganzen Szene
und der flüchtigen Andeutung einer möglichen Szene. Soviel Formen
das Komische annehmen kann, soviel entsprechende Formen wird auch der Witz
haben. Zuerst muß man also das Komische in allen seinen Formen zu
bestimmen suchen, indem man – was schon schwierig genug ist – den Faden
auffindet, der von einer Form zur andern leitet. Denn dadurch hat man auch
das Witzige analysiert, das dann nichts weiter ist als verflüchtigte
Komik. Aber den umgekehrten Weg gehen, direkt die Formel für den Witz
suchen, das heißt einen sicheren Mißerfolg BL3e2erleben
wollen. Was würde man von einem Chemiker denken, der in seinem Laboratorium
die Stoffe selbst zur Verfügung hätte, und der es vorzöge,
sie im Zustand bloßer Spuren in der Atmosphäre zu untersuchen!
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Aber wie fängt es der komische Dichter an, wenn er vermeiden will,
daß mein Gefühl erregt wird? Die Frage ist schwierig. Um sie
ganz klar zu legen, müßte man sich in eine ziemlich neue Art
von Untersuchungen einlassen, müßte die künstliche Sympathie
analysieren, die wir fürs Theater mitbringen, müßte feststellen,
in welchen Fällen wir an erdachten Freuden und Leiden teilnehmen,
und in welchen nicht. Es gibt eine bestimmte Kunst, unser Gefühl einzuschläfern,
um es wie einen Hypnotisierten für Träume empfänglich zu
machen. Es gibt auch eine Kunst, die darin besteht, daß unsere Sympathie
gerade in dem Augenblicke, wo sie sich regen könnte, entmutigt wird,
so daß die Situation, obschon sie ernst ist, nicht ernst genommen
wird. Zwei Methoden scheinen mir in dieser letzten Kunst vorzuherrschen,
die der komische Dichter mehr oder minder unbewußt anwendet. Die
erste besteht darin, daß in der Seele der dargestellten Person eine
bestimmte Empfindung isoliert und ihr eine sozusagen parasitäre, selbständige
Existenz verliehen wird. Im allgemeinen ergreift eine intensive Empfindung
nach und nach alle andern seelischen Zustände und taucht sie in die
ihr eigene Färbung: läßt man uns alsdann diese allmähliche
Imprägnation BL4e1miterleben,
so werden wir schließlich allmählich auch von einem entsprechenden
Gefühl imprägniert. Man könnte sagen – um ein anderes Bild
zu gebrauchen –, daß eine Gemütsbewegung dramatisch ist, sich
mitteilt, wenn mit dem Grundton zugleich alle Obertöne gegeben werden.
Weil der Darsteller so in seiner Totalität schwingt, kann auch das
Publikum in Schwingung geraten. Umgekehrt ist in der Gemütsbewegung,
die uns kühl läßt und die komisch wirken wird, immer eine
Starrheit, die verhindert, daß sie mit dem ganzen Komplex der Seele,
der sie zugehört, in Verbindung tritt. Diese Starrheit kann sich im
gegebenen Momente durch hölzerne Bewegungen oder etwas ähnliches
verraten und dadurch unser Gelächter reizen, aber schon vorher wiederstrebt
sie unserer Sympathie: wie kann man sich mit einer Seele in Einklang bringen,
die mit sich selbst nicht in Einklang ist? Im Avare ist eine Szene, die
ans Drama streift. Das ist die, wo der Schuldner und der Wucherer, die
sich bis dahin nie gesehen haben, sich Auge in Auge gegenüberstehen
und sich als Sohn und Vater erkennen. Wir wären hier wirklich in einem
Drama, wenn der Geiz und das Vatergefühl, die in Harpagon aufeinanderstoßen,
eine mehr oder minder originelle Verbindung eingingen. Aber keineswegs.
Kaum hat der Auftritt ein Ende, so hat der Vater alles vergessen. Als er
den Sohn wieder trifft, erwähnt er diesen ernsten Auftritt kaum: »Und
du, mein Sohn, dem ich die Güte habe die Geschichte von eben zu verzeihen,
usw.«. Der Geiz ist also neben dem übrigen hergegangen, ohne
sich damit zu berühren, ohne jede Gemeinschaft, gewissermaßen
in Zerstreutheit. Wenn er sich auch in der Seele eingenistet hat, wenn
er auch Herr des Hauses geworden ist, er bleibt trotzdem ein Fremdling.
Ganz anders wäre es bei einem Geiz tragischer Natur. Da würde
man sehen, wie er die verschiedenen Seelenkräfte an sich zieht, sie
absorbiert und, indem er sie umbildet, assimiliert: Gefühle und Affekte,
Wünsche und Abneigungen, Laster und Tugenden, all das würde für
den Geiz ein Stoff, dem er eine neue Art Leben einhauchen würde. Das
ist, wie mir scheint, der erste wesentliche Unterschied zwischen dem guten
Lustspiel und dem ernsten Drama.
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Der tragische Dichter, möchte ich sagen, so paradox diese Behauptung
auf den ersten Blick scheinen kann, hat nicht nötig, andere Menschen
zu beobachten. Erstens finden wir ja, daß sehr große Dichter
ein sehr zurückgezogenes, sehr bürgerliches Leben geführt
haben, das ihnen keine Gelegenheit bot, in ihrer Umgebung die Leidenschaften,
die sie uns so getreu beschrieben haben, sich entfesseln zu sehen. Aber
auch angenommen, sie hätten dieses Schauspiel gehabt, ich glaube nicht,
daß es besonders viel Zweck für sie gehabt hätte. Was uns
in ihren Werken interessiert, ist der Einblick in gewisse tiefliegende
Seelenzustände oder rein innerliche Konflikte. Und dieser Einblick
läßt sich nicht durch Beobachtung der Außenwelt gewinnen.
Seelen sind nicht durchsichtig. Äußerlich nehmen wir immer nur
Zeichen der Leidenschaft wahr. Wir interpretieren sie nur – übrigens
immer ungenügend – nach Analogie unseres eignen BL4e2Erlebens.
Unser eigenes BL4e3Erleben
bleibt die Hauptsache, nur unser eigenes Herz kennen wir von Grund aus
– wenn wir es kennen. Also hat der Dichter BL4e4erlebt,
was er beschreibt, alle Seelenlagen seiner Helden durchgemacht und ihr
ganzes Innenleben selber gelebt? Auch hier würden uns die Lebensbeschreibungen
der Dichter eines anderen belehren. Wie soll man sich auch vorstellen,
daß ein und derselbe Mensch Macbeth, Othello, Hamlet, König
Lear und noch viele andere gewesen ist? Vielleicht muß man unterscheiden
zwischen der Persönlichkeit, die man ist, und allen denen, die man
hätte sein können. Unser Charakter ist die Folge von lauter einzelnen
Entscheidungen. Immer wieder kommen auf unserer Bahn – zum mindesten scheinbar
– Kreuzwege, wir sehen viele mögliche Richtungen, ob wir auch nur
einer einzigen folgen können. Auf den alten Weg zurückzukehren,
aber alle geahnten anderen Richtungen bis zu Ende zu verfolgen, darin scheint
mir recht eigentlich das Wesen der dichterischen Phantasie zu liegen. Shakespeare
ist gewiß weder Macbeth noch Hamlet noch Othello gewesen; aber er
wäre diese verschiedenen Personen gewesen, wenn einerseits die Umstände
und andererseits sein eigener Wille die Triebe und Kräfte losgebunden
hätten, die bei ihm ins Innere zurückgedämmt waren. Schlecht
versteht man sich auf die Rolle, die die dichterische Phantasie spielt,
wenn man glaubt, sie setze ihre Helden aus links und rechts vom Wege aufgelesenen
Fetzen zusammen, wie um ein Narrenkleid zu flicken. Daraus ginge nichts
Lebendiges hervor. Das Leben läßt sich nicht künstlich
zusammensetzen. Bloß anschauen läßt es sich. Und die dichterische
Phantasie kann nichts anderes sein als eine totalere Anschauung der Wirklichkeit.
Wenn uns die Personen, die der Dichter schafft, den Eindruck des Lebens
machen, so tun sies, weil sie der Dichter selbst sind, der Dichter, der
sich vervielfältigt hat, der in tiefster Selbstbeobachtung sein eigenes
BL4e5Erleben
so mächtig erfaßt, daß er des Latenten hinter dem Wirklichen
Herr wird und, um ein rundes volles Werk zu schaffen, alles wieder aufnimmt,
was die Natur in ihm im Keimzustand bloßer Pläne ließ.
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