Erleben und Erlebnis bei Benetka
& Slunecko
in »Erleben«,
das zur Sprache kommt .
Originalrecherche von Rudolf Sponsel, Erlangen
Zur Methode der Fundstellen-Textanalyse * Hauptbedeutungen Erleben und Erlebnis * Sprache des Erlebens *
Zusammenfassung Benetka & Slunecko: »Erleben«, das
zur Sprache kommt.
Benetka, Gerhard & Slunecko, Thomas (2021)
»Erleben«, das zur Sprache kommt. Anmerkungen zur Methode der
»Introspektion« am Beispiel von Würzburger Schule und
Mikrophänomenologie. Journal für Psychologie, 29(2), 17–40
Fundstellen: Ti+, -IV-, -SR-. Erleben 49 ohne Titel 2, Seitenüberschriften 11, Literatur 2 ohne 1 Pseudo. Erlebt 7, E=Erlebnis 18.
Erleben wird von den Autoren insgesamt 49x erläuterungsrelevant und in der Zusammenfassung der informativen Arbeit 6x gebraucht, aber nicht definiert, erklärt oder näher beschrieben, auch nicht durch Querverweis, Anmerkung, Fußnote oder Literaturhinweis. Wir wissen also nicht, was die Autoren unter erleben verstehen. Es gibt zwar viel mehr Fundstellen, aber die meisten, 43, beziehen sich auf andere Autoren. Auch von diesen wird nicht geklärt, was sie unter erleben oder Erlebnis verstehen. Die Begriffsbasis dieser Arbeit beruht leider auf Treibsand und Nebel, das schmälert ihren Wert.
Fundstellen und Fundstellenkürzel
e:= erleben 36 (49, davon 2x Titel, Kopfzeile 19, 21, 23, 25, 27, 29,
31, 33, 35, 37, 39), erlebt 7, E:=Erlebnis 18, B:=Erlebensbericht 1, Erlebnisbericht
2, M:=Erlebensmatriux. P:= Erlebnisprotokoll. T:=Erlebnistrance 1
Von den Autoren habe ich 16 Fundstellen ausgemacht.
Es gibt zwar viel mehr Fundstellen, aber die meisten, 43,
beziehen sich auf andere Autoren, nämlich:
In seiner Krise der Psychologie führt Bühler den Ansatz der
Würzburger Schule im Zu-
sammenhang mit der Überwindung der überkommenen Assoziationspsychologie
ein.
Wenn man die Denkweise der »älteren« Psychologie,
die jeden psychischen Vorgang
auf die mechanische Wirkung der Assoziationsgesetze zurückführt,
auf einige wenige
Bereiche begrenzt oder überhaupt außer Geltung setzt, sieht
man sich zwangsläufig vor
das Problem gestellt, zu klären,»wie der seelische Organismus
arbeitet«(Bühler1927,
14; er zitiert hier Stumpf), wie – wenn eben nicht durch die Gesetze
der Assoziation
bedingt – ein Bühler20.1Erlebnis
oder eine Handlung2 zustande kommt. Es ist die Zielgerichtet-
heit, dieses Moment des Intentionalen, welche diese Frage nach dem
Wie mit der nach
dem »Sinn«, genauer nach der Funktion der psychischen Abläufe
verknüpft. Bühler
spricht von einer grundsätzlichen Umstellung der Interessen der
Bühler20.2Erlebnispsychologie
»von der vorwiegenden Richtung auf das Inhaltliche [auf Empfindungen,
Vorstellun-
gen und einfache Gefühle, die sich eben nach den blind, das heißt
ohne Zutun des
Subjekts wirkenden Gesetzen der Assoziation zu »Komplexen«
zusammenschließen]
zur Richtung aufs Formale, Funktionale« (ebd., 13–14). Und weiter:
»Die derart ge-
stellte Sinnfrage aber führt konsequent erstens zu neuen Aufgaben
der deskriptiven
Bestimmung der Bühler20.3Erlebnisse
und zweitens zu spezifisch teleologischen Verlaufsgesetzen
des seelischen Geschehens« (ebd.). Es ist ausschließlich
dieser erste Punkt, der uns in
der Folge zu beschäftigen hat: die Frage der qualitativen Beschreibung
jener psychischen
Operationen, die für den Zusammenhang sinnvoller
Bühler20.4Erlebnisse
oder Handlungen ver-
antwortlich sind."
22: "1.2 Zu Karl Bühlers Methodik der Denkpsychologie
Wir beschränken uns hier auf den ersten Teil der Habilitationsschrift,
in dem Bühler
auch das Setting der Versuche allgemein beschreibt. Seine Frage lautet:»
Was Bühler22.1erleben
wir,
wenn wir denken?« (Bühler 1907/1908, 127). Die Untersuchungsmethode
ist – ohne
weitere Bestimmung – die Selbstbeobachtung. »Zufälligkeit
und Willenseinfluss des
Bühler22.2Erlebenden«
– »die beiden Missstände aller älteren [Selbst-]Beobachtungen«
– wer-
den durch »eine einfache Arbeitsteilung« beseitigt:»
Es wird nämlich dem Beobachter
ein Versuchsleiter beigegeben, der die Bühler22.3Erlebnisse
hervorruft und die Beobachtungen zu
Protokoll nimmt« (ebd., 123). Bevor wir uns diese Beobachtungen
vergegenwärtigen,
werfen wir aber noch einen Blick auf das stoffliche Moment, auf das
Material, mit dem
Bühler Denkprozesse eingeleitet hat. Bühler hat seinen Versuchspersonen
verschiedene
Arten von »Rätseln« oder »Denksportaufgaben«
aufgegeben – Fragen zum Beispiel
der folgenden Art(ebd.,128): ..."
23: "Die Versuchsperson sitzt an einem Tisch, der Versuchsleiter»
in der Nähe«,er liest
die Aufgaben vor und misst die Zeit, bis die Versuchsperson mit Ja
oder Nein antwor-
tet. »Nach der Antwort erbat ich mir eine möglichst treue
Beschreibung dessen, was
die Vp. in der Versuchszeit Bühler23.1erlebt
hatte. Da bekam ich dann Protokolle« (ebd., 129).
Wir werden sehen, dass Bühler eben darüber nichts sagt: darüber,
wie er zu seinen Pro-
tokollen gekommen ist. ...
23: Bühler: "»Es ist, wie ich glaube, viel richtiger, man
lässt die Vp. ruhig ihre eigenen Worte gebrau-
chen, ja manchmal ist es gut, sie vor Kunstausdrücken direkt zu
warnen; sie soll, wenn
es nicht anders geht, Umschreibungen gebrauchen oder es mit Hilfe eines
Bildes klar zu
machen versuchen, was sie sagen will. Damit wird man insbesondere bei
geübten Vp. viel
weiter kommen. Für den Versuchsleiter bringt dasfreilich neue
Lasten, er muss sich einfüh-
len in die Lage seiner Vp., muss Bühler23.2miterleben,
wenn er sie ordentlich verstehen will; er muss
auf ihre Eigentümlichkeiten eingehen und mit ihr in ihrerSprache
reden können. Das gibt
diesem Zusammenarbeiten ein eigentümliches, vertrautes Gepräge«(ebd.,133–134)."
24: "Gleich zur Einleitung in §2 seiner Darstellung – dem
Kapitel, das mit »Die experimentelle Selbstbeobachtung«
überschrieben ist – hält
Ach (1999 [1905], 104) fest, dass zur »vollständigen Beschreibung
und Analyse«
des durch »äußer eexperimentelle Hülfsmittel
«veranlassten Ach24.1Erlebnisses
der Versuchs-
person ein »fortwährender enger Gedankenaustausch zwischen
der beobachtenden
Versuchsperson und dem protokollierenden Versuchsleiter« stattfindet.
Es ist dieser
»Gedankenaustausch«,derunsinteressiert.
Nur am Rande streifen wir die Frage, wie Ach den
letztlich auf Kant zurückge-
henden Einwand gegen die Introspektion, wonach die Beobachtung eines
psychischen
Vorgangs diesen »alteriert«, »verstellt«, das
heißt: verändert, zu umgehen sucht. Er
bringt dabei die von Müller und Pilzecker (1900) experimentell
untersuchte Perseve-
rationstendenz ins Spiel. Ach24.2Erlebnisse,
auf die intensive Aufmerksamkeit gerichtet ist,
tendieren dazu, für längere Zeit zu perseverieren, wodurch
eine Beobachtung im Grun-
de »in derselben Weise wie einem äußeren Naturvorgang
gegenüber« möglich werde
(Ach1999[1905],106). Gleichwohl ist sich Ach der möglichen Schwierigkeiten
dieses
Verfahrens bewusst. Es gehe vor allem darum, »die Schilderungen
des Ach24.3Erlebnisses von
dem Gutdünken und der Willkür der Versuchspersonen zu befreien«(ebd.,108)."
25: Ach: "»Der Versuchsleiter hat deshalb die Pflicht, die gegebene
Schilderung durch Fragestellun-
gen zu ergänzen. Er hatsich durch Fragestellungen darüber
zu vergewissern, ob die von der
Versuchsperson benützte sprachliche Bezeichnung wirklich den adaequaten
Ausdruck des
zugehörigen geistigen Inhaltes darstellt, d.h. also die Übereinstimmung
des sprachlichen
Symboles und seiner logischen Formulierung mit dem Ach25.1erlebten
geistigen Inhalte nachzu-
weisen«(ebd.)."
26 Lewin: "... Wird aber das Protokollierte sogleich der
Vp vorgelesen, so wird ein solches eventuell vorkommendes Abweichen
von dem genauen
Wortlaut der Aussage nicht zu einer Gefahr, sondern zu einer Sicherung
der Richtigkeit des
Protokolls. Es werden so bisweilen recht wichtige Missverständnisse
aufgeklärt und nicht
selten auch der Vp selbst feinere Eigentümlichkeiten des Lewin26.1Erlebnisses
bewusst gemacht. Das
setzt aber voraus, dass die Vp zu hören bekommt, was wirklich
geschrieben wird, und dass
sie gegen jede Formulierung, die ihr nicht passt, auch wenn sie die
Gründe davon nicht
oder noch nicht übersieht, sofort Protest erhebt«(Lewin1918b,197–198)."
28: "Methodologisch für uns interessant ist die unmittelbar darauf
folgende Rahmung des
weiteren Geschehens durch die Interviewerin:
Metaphern des Zurückgehens sind hier im Vordergrund (»go
backwards«, »replay«,
»rewind«), aber der Impuls zielt nicht auf ein Erinnern,
adressiert nicht eine Instanz,
die aus der Gegenwart in eine – wenn auch kürzlich – Petitmengin28.1erlebte
Vergangenheit zurück-
schaut, sondern zielt letztlich auf eine Immersion, ein Wiedereintauchen
(»immerse
yourself«) in das Petitmengin28.2Erleben
selbst – eine Verschiebung mit bedeutenden methodologi-
schen Konsequenzen. Denn die Immersion, das (Wieder-)Eintauchen in
das Petitmengin28.3Erleben,
hat gegenüber dem Erinnern die unmittelbare Gegenwart voraus.
Es ist das aktuell [>29]
Gegebene und nicht das Erinnerte, das auf Aspekte hin entfaltet werden
soll, die im
Augenblick gerade als noch nicht bewusst(»pre-thought«)
vorhanden sind
29: "Liest man genau, dann lässt sich an dieser Sequenz (deren
Struktur – zuerst wortge-
treues Zurücksagen, dann Anregung zu einer Fortsetzung und Differenzierung
– sich
in dem Interviewprotokoll ständig wiederholt) allerdings eine
im Vergleich zu den
Würzburgern andere Absicht erkennen: Bei der Wiederholung der
Aussage durch die
Interviewerin geht es nicht um eine dialogische Validierung der Aussage,
nicht darum
sicherzustellen, ob die Interviewerin etwas richtig verstanden hat
(wie Ach und Lewin
das nahegelegt haben), sondern darum, die interviewte Person in ihrem
Petitmengin29.1Erlebensstrom
zu halten und diesen weiter anzuregen. Wenn hier die Interviewer in
Cs Aussage »some-
thing is happening« wiederholt und dann mit »that gives
you information about ...«
fortgesetzt wird, bedeutet das nichts anderes als eine implizite Aufforderung,
das Petitmengin29.2Erlebte
weiter zu sondieren, weitere Schichten davon zu elizitieren,
es weiter »aufsteigen« zulassen."
30: "Mit anderen Worten: Das Ich, das über sein Denken, seine Affektionen,
seine
Wahrnehmungen so gut Bescheid zu wissen glaubt, und all sein Meinen,
Beschreiben,
Abstrahieren, Bewerten und Argumentieren soll außen vorbleiben.
Es geht um das,was
wir Varela30.1erleben,
und nicht darum, was wir denken, dass wir Varela30.2erleben
oder Varela30.3erleben sollten.
Die phänomenologische Reduktion, so Varela,"
30: "2.2 Zum BS30e1Erleben
selbst
Halten wir also fest: Mikrophänomenologen wollen mit ihren Fragen
eine
Art Mikrophän30Er-
lebnistrance induzieren, in der
nicht auf Mikrophän30.1Erlebtes
zurückgeschaut, sondern in der das
Mikrophän30.2Erleben in Präsenz
gehalten und aus der epistemischen Autorität dieses
aktuellen Mikrophän30.3Erlebens
gesprochen wird. Sie wollen, um das in einer phänomenologischen Wendung
zu sagen, zum Mikrophän30.4Erleben
selbst – und sich nicht mit der Erinnerung an das Mikrophän30.5Erlebte
begnügen
Daraus ergeben sich sehr spezifische Anforderungen
an die Interviewenden. Diese
müssen, wie dargestellt, zunächst dafür sorgen, dass
die Interviewten nicht in ein allge-
meines Beschreiben bzw. Abstrahieren verfallen und sich statt dessen
auf das je einmalige
Mikrophän30.6Erleben im Hier und
Jetzt fokussieren, das durch die Frage des Interviewers
ausgelöst [>31]
wurde. Konkret bedeutet das, das Interview immer wieder und diesbezüglich
durchaus
bestimmt (von daher prima facie nicht unbedingt immer liebevoll) von
Abstraktionen
jeglicher Art weg und auf ein konkretes Mikrophän31.1Erlebnis
zurückzubringen,
das sich zeitlich ge-
nau lokalisieren lässt. Denn selbst wenn dieses Mikrophän31.2Erleben
gerade passiert ist (wie in dem
oben zitierten »elephant«-Beispiel), braucht es doch die
Interviewerin, um es wieder
und wieder zu evozieren und damit so weit zu stabilisieren10,dass eine
mikrophänome-
nologische Ausdifferenzierung möglich wird.
Auf dieser Basis dienen dann »leere«,
d.h. ohne propositionalen Gehalt auskom-
mende Fragen des Interviewers dazu, die Aufmerksamkeit des Interviewten
immer
wieder von unterschiedlichen Impulsen ausgehend auf das Mikrophän31.3Erleben
zu lenken, damit
dieses von verschiedenen »Richtungen« her wieder und wieder
ausgestrichen oder
ausgedehnt wird, um letztlich dadurch in immer feinerer struktureller
und tempora-
ler – synchroner wie diachroner – Granularität sichtbar zu werden
(Vermersch 2003
[1994], insbesondere Kapitel 5; Petitmengin 2006, 244–246). Ein Beispiel
aus Pe-
titmengin und Bitbol (2009, 376) soll das verdeutlichen. Die Interviewten
werden
zunächst gebeten, sich einen Wasserfall in den Bergen vorzustellen.
Sobald sich dazu
eine Vorstellung stabilisiert hat, kann etwa folgendermaßen weiter
gefragt werden:
Weitere Fragen dienen dazu, die Aufmerksamkeit vom Inhalt auf die
– in aller Regel
prä-reflexive-diachronische – Struktur bzw. Dynamik zu lenken,
mit der sich das
Mikrophän/Petitmengin31.1Erleben
eingestellt hat:
Gerade letztere Fragen belegen, dass hier nicht vorrangig interessiert,
was erfahren bzw.
gedacht wird, sondern wie dieses Mikrophän/Petitmengin31.2Erleben
zustande kommt, wie das innere Bild sich
einstellt. Nicht im manifest Inhaltlichen, im Was, sondern im Wie dokumentiert
sich,
woran die Erfahrung sich ausrichtet, von woher und wohin sie sich orientiert."
32: "Aus der Schilderung des mikrophänomenologischen Interviewens
sollte des Wei-
teren deutlich geworden sein, dass sich dieses – und das gilt für
beide Seiten: den
Interviewer wie den Interviewten – sehr stark von der Alltagskommunikation
unter-
scheidet. Abgesehen von der Suspension alltäglicher Reziprozitätsregeln,
wie sie auch
aus anderen Interviewformen geläufig sind, muss die interviewte
Person darüber hin-
aus auch bereit sein, alles Argumentieren und Abstrahieren sein und
sich immer wieder
an den Ausgangspunkt des Mikrophän32.1Erlebens
zurückführen zu lassen. Sie muss eine asymme-
trische, von Routinen des alltäglichen Sprechens hochgradig abweichende
Interaktion
tolerieren und bereit sein, das auf der eigenen Bewusstseinsleinwand
Erscheinende ohne
Bewertungen, Berichtigungen, Eigentheorien, Elaborationen, Meinungen,
Mutmaßun-
gen – kurzum: ohne das Halbwissen des Alltags an das eigene Mikrophän32.2Erleben
anzulegen – zu
berichten. Pointiert gesagt: Sie muss das eigene Mikrophän32.3Erleben
ungeschützt ausliefern. Der
Interviewer andererseits muss über eine Art kommunikativer Trancetechnik
verfügen,
über ein Erickson’sches Sprechen11 – mit Inhaltsleere und Vagheit
als wichtigsten
Kompetenzen."
32f: "Die Daten, die hier interessieren, werden gemeinhin als »introspektiv«
bezeich-
net.12 Jemand erzählt über etwas, das nur ihm selbst zugänglich
ist. Wir haben es
also nicht mit Erfahrungen oder BS32E1Erlebnissen
zu tun, sondern mit Selbstberichten, mit
sprachlichen Beschreibungen, die jemand für sein BS33e1Erleben
findet und mittels derer er [>33]
oder sie Bedeutung generiert, in den Bereich der Bedeutung eintritt.
Wofür wir uns
hier interessieren, ist, wie dieser Bericht zustande kommt. Wir setzen
voraus, dass es
für das Sprechen über das eigene BS33e2Erleben
keine »natürliche«, »richtige«, »authenti-
sche« Sprache gibt. Es gibt also viele verschiedene Logiken des
Zur-Sprache-Bringens;
verschiedene »Sprachspiele«, die je für sich einer
bestimmten »Logik«, das heißt
bestimmten Regeln folgen. Wir heben hervor, dass »Regel«
für Wittgenstein ein Be-
obachtungsbegriff ist: Eine Regel ist etwas, was sich in ihrer Anwendung
erweist. Wir
behandeln das Vorgehen der Würzburger Schule und der Mikrophänomenologie
also
als regelgeleitete Sprachspiele, in denen »innere«, das
heißt in der Perspektive der ers-
ten Person gegebene psychische Abläufe in einem Dialog zur Sprache
gebracht werden
sollen – in einem Dialog, in dem dieser Eintritt in den Bereich der
Bedeutungen sich
in einer, wie wir glauben, je spezifischen und exakt beschreibbaren
Art und Weise voll-
zieht. Man kann also sagen: Innere Erfahrung wird in einer der Versuchsperson
und
dem Versuchsleiter gemeinsamen Sprache artikuliert, sie wird»
objektiviert«, intersub-
jektiv zugänglich und damit »wissenschaftsfähig«
34: "Was lässt sich nun an Unterschieden zwischen den beiden Ansätzen
festhalten?
Dem Vorgehen der Würzburger Schule liegt,so könnte man sagen,ein
letztlich aus der
Fremdbeobachtung abgeleitetes Modell der »Selbstbeobachtung«
zugrunde. Die Per-
son des Beobachters ist gleichsam aufgespalten: in einen beobachtenden
und einen zu
beobachtenden Teil. Der zu beobachtende Teil – ein perseverierendes
Bühler34.1Erlebnis
– steht
dem beobachtenden Teil im Grunde in derselben Weise zur Verfügung
wie sonst ir-
gendein zu beobachtendes prozesshaft ablaufendes Ereignis in der Außenwelt.
Nicht
umsonststelltBühlereineAnalogieherzueinemBiologen,»dereinenProzessbeobach-
tet, vielleicht mit einigen Beobachtungsschwierigkeiten etwa unter
dem Mikroskop«
(Bühler 1907/1908, 132). Liegt hier vielleicht derselbe Fehler
vor, auf den Lewin in
Bezug auf die Sinnespsychologie hingewiesen hat: dass sich nämlich
in den Denkvor-
gängenbloßdieStrukturderAufgabeabbildetähnlichwiedergegenständlicheInhaltin
der gesehenen Form im sinnespsychologischen Experiment? Die von Bühler
registrier-
ten Denkvorgänge sind unanschaulich, weil sie auf unanschauliche
Aufgaben gerichtet
sind. Dann wären die »Selbstbeobachtungen« der Würzburger
Schule also Selbstbe-
obachtungen unter Anführungszeichen. Experimente, die im Eigentlichen
etwas über
das Lösen von so oder so konstruierten Denksportaufgaben aussagen,
wenig aber über
jene komplexen inneren Vorgänge, die wir im Alltag, in unserer
Alltagssprache, völlig
undifferenziertals »Denken« qualifizieren.
Ganzanders der Zugang der Mikrophänomenologie:
Sie geht eben nicht davon aus,
dass man einen einmal abgelaufenen Vorgangfür zumindest kurze
Zeit irgendwie fixie-
ren kann oder fixieren soll. Der Vorgang wird von außen – durch
die Aufforderungen
des Interviewers–immer wieder aufs Neue angefacht, in Bewegung gehalten–und
da-
bei angereichert, weiter und weiter expliziert. Der Interviewer fungiert
als sokratischer
Geburtshelfer: Zur Welt gebracht soll die ganze Vielgestaltigkeit,
die ganze Komple-
xität eines einfachen psychischen Aktes werden; das heißt
vor allem auch jene prä-
reflexiven Anteile, die vom Interviewten beim Eintritt seines Mikrophän34.1Erlebens
unbemerkt, in
diesem deskriptiven Sinne für ihn »unbewusst« geblieben
sind. Um das zu erreichen,
klammern die Mikrophänomenologen die alltagsübliche Art zu
reden ein und versu-
chenalles aus dem Weg zu räumen, was die Transformation des Mikrophän34.2Erlebens
in die Sprache
in alltagsüblicher Weise formatieren könnte; in diesem Nicht-Akzeptieren
der Alltags-
sprache liegt, sowie in der Psychoanalyse auch, das Produktive.
In der Mikrophänomenologie verschiebt sich
also der epistemische Montagepunkt
weg von der Logik des erkennenden Erreichens eines feststehenden, einmal
stattgefun-
denen Mikrophän34.3Erlebens
hin zu einer Forschungslogik der dialogischen Entfaltung eines vor
dieser Entfaltung noch verborgenen Mikrophän34.4Erlebens.14
Mit anderen Worten: Eine prä-reflexi-
ve BS34M1Erlebensmatrix
wird unter starker Beihilfe einer interviewenden Person in Sprache [>35]
hinein entfaltet, Resultat ist eine Beschreibung, die vor diesem forscherischen
Zugriff
nie bewusst war und ohne diesen auch nie im Bewusstsein aufgetaucht
wäre.15
Vor diesem Hintergrund verliert die für die
Würzburger Schule so essenzielle Fra-
ge, »ob die von der Versuchsperson benützte sprachliche
Bezeichnung wirklich den
adäquaten Ausdruck des zugehörigen geistigen Inhalts darstellt«,
an Bedeutung. Zu
fragen ist nun, wie das BS35e1Erleben
in seiner Entfaltung sich zu einer »Erfahrung« gestal-
tet. Denn was ist das fortwährende In-Sprache-Fassen anderes als
– die Formung von
BS35E1Erlebnissen?"
35f: "Was ist aber nun in methodologischer Hinsicht aus der Gegenüberstellung
von
Würzburger Schule und Mikrophänomenologie zu gewinnen? Zunächst
glauben wir, [>36]
dass der Begriff der Introspektion einseitig und daher im Grunde für
beide Verfahrens-
weisen unpassend ist. »Einseitig«, weil damit die Unterscheidung
zwischen BS36e1Erleben
und BS36B1Erlebnisbericht
verwischt wird. BS36e2Erleben
wird in beiden Ansätzen wissenschaftsfä-
hig, indem es artikuliert wird. Diese Artikulation, das heißt
der BS36B2Erlebnisbericht,
ist der
wissenschaftliche Gegenstand – ein Umstand, von dem der Begriff »Introspektion«
ablenkt, insofern er auf das BS36e3Erleben
selbst
referiert.
Beiden Ansätzen gemeinsam ist,dass diese Artikulation
sich einem Dialog verdankt:
In der Interaktion zwischen Versuchsleiter und Versuchsperson wird
das BS36e4Erleben der
Versuchsperson zur Sprache gebracht.
Allerdings geht es bei beiden Ansätzen wohl
doch um Verschiedenes. In Bezug
auf die Würzburger Schule scheint uns Achs Begriff der Perseveranztendenz
als un-
passend: In Bühlers Experimenten zur Denkpsychologie wird nicht
»nachhallendes«
aktuelles Bühler36.1Erleben
beschrieben, sondern die Erinnerung an vergangenes
Bühler36.2Erleben.17
Für
die Methodologie der Psychologie ist interessant, dass sich das Zustandekommen
der
BS36P1Erlebnisprotokolle als
Prozess der Aushandlung von Bedeutungen zeigt. Was niederge-
schrieben wird, sind gemeinsam in der Situation als deskriptiv richtig
befundene Worte.
DieVersuchsperson ist also in die Auslegung ihrer Erzählung mit
einbezogen.
Anders als in derWürzburger Schule scheint
in der Mikrophänomenologie der An-
spruch auf die Untersuchung aktuellen Mikrophän36.1Erlebens
glaubhafter vertreten zu sein. Aber
auch hier zahlt es sich aus, genau zu sein: Was im Eigentlichen thematisiert
wird, ist
nicht das Mikrophän36.2Erleben
selbst,
sondern der Umstand, dass und wie die Artikulation des
Mikrophän36.3Erlebens
daran anschließendes aktuelles Mikrophän36.4Erleben
zu modifizieren und in weiteren, durch
den Versuchsleiter initiierten Reartikulationen »anzureichern«,
das heißt begrifflich
zu elaborieren vermag. Wovon beide Ansätze stillschweigend ausgehen:
dass es näm-
lich eine eindeutige Beziehung zwischen Bühler/Mikrophän36.1Erleben
und Sprechen über das Bühler/Mikrophän36.2Erleben
gibt,
ist empirisch unhaltbar. Das zu bedenken, scheint uns wichtig zu sein
für künftige
Analysen dialogischer Methodologie: Wie die Sozialwissenschaften insgesamt
so ten-
diert gerade auch die Phänomenologie stillschweigend dazu, die
in einer gegebenen
Sprachgemeinschaft bestehende Heteroglossie in letztlich klassenspezifisch
bestimmte
Monoglossie aufzulösen"
Bis hierhin 82 von 93 Fundstellen mit Kopfzeilen (11).
Anmerkungen:
Die Autoren geben folgende Literatur an:
Suchen in der IP-GIPT,
z.B. mit Hilfe von "google": <suchbegriff>
site:www.sgipt.org
z.B. Inhaltsverzeichnis site:www.sgipt.org. |
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