Wirklichkeit und wirklich
Ein alltäglicher und wissenschaftlicher Grundbegriff
Originalarbeit von Rudolf Sponsel,
Erlangen
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Eine ebenso allgemeine wie auch praktische Definition liefern die Buddhisten: wirklich ist, was wirkt. Doch man beachte: "Die Philosophie ist ein Kampf gegen die Verhexung des Verstandes durch die Mittel unserer Sprache." Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, 109] |
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Zusammenfassung > Wirklichkeit.
Der Sachverhalt der Wirklichkeit war in der Menschheitsgeschichte im
Unterschied zu bloßen Träumen oder Phantasien
von großer Bedeutung, weil über-lebenswichtig. Was ist also
wirklich, was Einbildung, Vermutung oder nur eine Denkmöglichkeit?
Was Halluzination oder Wahn
ist, spielt in der Psychopathologie eine große Rolle und ist gar
nicht so einfach, wie manche meinen.
Seit über die Wirklichkeit systematisch und
gründlicher nachgedacht wird, hat sich dazu eine eigene Wissenschaft
entwickelt, die traditionell in der Philosophie unter der Erkenntnistheorie
und Ontologie und im 20. Jahrhundert eine gewisse Loslösung
von der Philosophie erfuhr und mehr und mehr in der Wissenschaftstheorie
abgehandelt wurde, eine Art Bindeglied zwischen den Wissenschaften und
der Philosophie. Mit der philosophischen Analyse wurde es unübersichtlich
und unergiebig. Ein -ismus
nach dem anderen entstand und der "Fortschritt" bestand lediglich in einer
Vielzahl von - meist wenig konkreten und operationalen
- Theorien und Meinungen, oft sehr abgehoben von der Lebens- und Wissenschaftspraxis.
Eng verknüpft mit der Wirklichkeits- und Realitätsfrage ist auch
die Frage nach der Wahrheit und der Referenz.
Der Durchschnitts- oder Alltagsmensch hat indessen
keine großen Probleme mit dem Wirklichkeitsbegriff. Für ihn
ist all das, was er wahrnimmt, erlebt und daraus ableitet, wirklich: sein
Wirklichkeitserleben. Und das ist im Großen und Ganzen für das
praktische Leben auch ausreichend - trotz der vielen Fehlerquellen in der
Wahrnehmung und kognitiven Informationsverarbeitung.
Eine ebenso allgemeine wie auch praktische Definition
liefern die Buddhisten:
wirklich
ist, was wirkt.
Schwieriger wird es, wenn man "die" Wirklichkeit
des subjektiven Erlebens und Bewertens hinzunimmt. Auch ein Traum oder
eine seelische Regung von - sagen wir - Zweifel ist natürlich nicht
weniger wirklich als die Sonne oder der Stuhl auf dem ich sitze, aber weit
schwieriger zugänglich. Noch schwieriger wird es, wenn man die Flüchtigkeit,
Veränderung und den Wandel mit einbezieht.
Fluechtigkeit des Erlebens Das allermeiste
wirkliche Erleben verschwindet, zumindest in der Weise, dass es bewusst
nicht mehr zugänglich ist. Wenn wir für einen Wach-Tag 16 Stunden
und pro Minute z.B. ein Erlebensereignis und ein durchschnittliches
Leben mit ungefähr 80 Jahren ansetzen, dann bestünde solch ein
Leben aus 16*60*365*80 = 28.032.000, also gut 28 Millionen, wirklichen
Erlebensereignissen.
Wählte man als Erlebenszeiteinheit die Sekunde, ergäben sich
rund 1,68 Milliarden. Wie und wie viel Erleben tatsächlich gespeichert
wird, ist derzeit noch offen und auch sehr schwierig zu beweisen: selbst
Penfields-Ergebnisse
sind nicht so klar, wie man auf den ersten Blick meinen könnte. Prinzipiell
gibt es in der Physik die analoge Problematik des sehr kleinen, kurzen
und flüchtigen. Dass man diese Probleme in der Physik so gut lösen
konnte, wirft die Frage auf, weshalb dies in der Psychologie bisher noch
nicht einmal ansatzweise gelungen ist. Und sie ist einfach zu beantworten:
(1) weil die naturwissenschaftliche Codierung
des Erlebens (> Realität
des Psychischen) derzeit noch weitgehend nicht entschlüsselt und
unbekannt ist, (2) weil den experimentellen Möglichkeiten der Erforschung
beim Menschen deutliche Grenzen gesetzt sind und (3), weil unheimlich viele
absonderliche - meist Katheder - Theorien über das Bewusstsein
vernünftige Forschung behindern und (4) das methodologische Niveau
der Definitionen und Vorkehrungen gegen die Tücken und Fallstricke
der Sprache wenig ausgeprägt sind.
Nun ist es wahrscheinlich sinnvoll, verschiedene
Wirklichkeiten ("Welten") zu unterscheiden:
subjektive,
gruppensubjektive, intersubjektive und objektive
sowie neben der "realen" Welt die Welten der Möglichkeiten,
Phantasien,
Wünsche,
Normen
und Werte. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft die Dauer
und Fassbarkeit des Wirklichen. Ist es nur sehr kurz und flüchtig,
kaum greif- oder fassbar wie so viele Bewusstseins- oder mikrophysikalische
Prozesse (h = 6,55 * 10^-27 erg sec)?
Eine besondere Problematik liegt im Wirklichkeitsstatus
unserer geistigen Konstruktionen einerseits der Allgemeinbegriffe (Universalien)
und andererseits der abstrakten Konstruktionen wie z.B. der Staat,
die
Gesellschaft, die Medien, die Kirche, die Arbeiterklasse,
das
Recht, die Konjunktur, usw.
Diegrundlegende Fragestellung lautet: Wer erkennt was für welche Dauer in welcher Welt und Situation mit welchen Interessen und Verfahren, Methoden oder Mitteln wie zuverlässig und wie prüfbar? Die grundlegende Fragestellung zerlegt, ergibt 10 Einzelfragen
Der Wirklichkeitsstatus
im Alltagsleben
Die meisten Menschen sind erkenntnistheoretische Realisten,
d.h. sie gehen mehr oder minder naiv bis kritisch von einer tatsächlichen
Außenwelt aus, die uns teilweise durch unsere Wahrnehmung und Informationverarbeitung
direkt vermittelt wird.
Am besten geht man von konkreten Beispielen aus: (1) Steht da eine
Ampel? (2) Ist da ein Baum? (3) Siehst Du das Haus? (4) Hast Du den Arzttermin
noch im Kopf? (5) Hast Du Schmerzen? (6) Spürst Du Hunger? (7) Fühlst
Du Dich im Moment zufrieden? (8) Geht es Deiner Frau gut? (9) Kommen zu
viele Flüchtlinge [2015]? (10) Wird Deutschland das schaffen, mit
den vielen Flüchtlingen fertig zu werden?
Diese Beispiele dürften zeigen, dass (1-8)
für die allermeisten völlig problemlos sind. (9) könnte
für viele strittig sein, so lange unklar ist, wie viele nun genau
"viele" sind und wann es dann zu viele sind oder sein könnten, also
unter welchen Rand- oder Rahmenbedingungen der Sachverhalt zu erörtern
ist. Und ebenso natürlich (10), da niemand in die Zukunft sehen kann
und unklar ist, was "schaffen" oder fertig werden bedeutet, wobei auch
noch die Zeit offen gelassen wurde.
Der
Wirklichkeitsstatus von Allgemeinbegriffen
(Universalien)
Obwohl seit dem Mittelalter über den Wirklichkeitsstatus von Allgemeinbegriffen,
den sogenannten Universalien,
philosophisch und wissenschaftstheoretisch gestritten wird, hat der Mensch
im Alltag so gut wie keine Probleme damit. In der realen Welt gibt es nur
konkrete Bäume, aber nicht den Baum. So gibt es zwar keinen
allgemeinen Baum, die Universalie
Baum, aber jeder weiß, was damit gemeint ist. Und so gibt es in der
Lebenspraxis kaum ein Problem damit, ob etwas ein Baum, ein Tisch, krumm
oder gerade ist - jedenfalls dann, wenn konkrete Modelle in der Wahrnehmungswelt
vorliegen..
Der
Wirklichkeitsstatus von abstrakten Begriffen
Darunter kann mehrerlei verstanden werden. Begriffe sind eigentlich
immer abstrakt. Aber das meint man meist nicht, wenn man von abstrakten
Begriffen spricht. Gemeint ist gewöhnlich, dass dem Begriff kein Gegenstand,
kein Ding entspricht, wie etwa beim Begriff Definition.
Definitionen gibt es in der objektiven Welt nicht, sie sind ein Produkt
des menschlichen Geistes. Aber es gibt oder sollte Referenzen
geben. Zu den abstrakten Begriffen in diesem Sinne gehören alle nicht
direkt wahrnehmbaren Konstruktionen, z.B. der Bewusstseinsstrom,
Charaktereigenschaften oder die natürlichen Zahlen, die man aber in
Natur und Kultur in endlichen Anzahlen vielfach repräsentiert ("Modelle")
finden kann wie überhaupt die mathematischen Begriffe mehr in der
Natur realisiert sind als man gewöhnlich meint.
Der Wirklichkeitsstatus
von mathematischen Begriffen
Die meisten mathematischen Begriffe haben Referenzen in der Natur,
Wissenschaft und Technik, sonst könnte die Mathematik nicht die Sprache
der Natur (Galilei), Wissenschaft und Technik sein und in den empirischen
Wissenschaften wie der Technik eine solche Bedeutung erlangt haben. Wenn
auch die meisten mathematischen Begriffe ihren referentiellen Ursprung
in der Natur und Umwelt haben, so ist sie doch letztlich unabhängig
von empirischen Gegebenheiten entwickelt und verfasst. Man könnte
auch sagen, Mathematik ist die Wissenschaft von idealisierten Objekten,
Strukturen und ihren Beziehungen. Die Lehre von Dreieck
hängt nicht davon ab, welche Dreiecke wir in der realen Welt vorfinden.
So beruht der Erfolg der Mathematik auf ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit
von empirischen Gegebenheiten, auf ihrer begrifflichen Strenge und ihrem
rigorosen Beweiskonzept. In gewisser Weise ist das ein Paradox, nämlich
wie erfolgreich eine Wissenschaft auf die Wirklichkeit angewendet werden
kann, obwohl sie im
Prinzip unabhängig von ihr entwickelt und gedacht wird. Mit diesem
Rätsel hat sich auch Albert Einstein
in seinem Festvortrag (Geburtstag Friedrich des Großen) am 27.1.1921
beschäftigt und kommt unter dem Kapitel-Titel GEOMETRIE UND ERFAHRUNG
auf S. 119f zu folgender Lösung (fett-kursiv von RS hervorgehoben):
Der Wirklichkeitsstatus
von logischen
Begriffen
Was ist der Wirklichkeitsstatus von "wenn" (Bedingung), "oder" (Verknüpfung),
"ist" (Zuschreibung)? Mit den logischen
Begriffen scheint es sich ähnlich zu verhalten wie mit den mathematischen.
Der logische Grundbegriff ist die Folgerung, der Schluss. Dazu bedarf es
im allgemeinen Voraussetzungen und Schlussregeln, wobei die Inhalte weitgehend
keine Rolle spielen. Wenn alle Deutschen Inder sind und Rumpelstilzchen
ein Deutscher ist, dann ist Rumpelstilzchen logisch gesehen auch ein Inder.
Auch wenn in unserer Wirklichkeit Deutsche keine Inder sind.
Der Wirklichkeitsstatus
von psychologischen Begriffen
Psychologische Begriffe sind an die Existenz des Menschen oder beseelte
Lebewesen gebunden. Nachdem wir uns selbst am nächsten sind und miteinander
aufwachsen, gibt es sehr viele psychologische Begriffe, die zumindest dem
Anschein nach, die psychologische Wirklichkeit beschreiben und erklären
sollen. Kaum problematisch sind hierbei die Begriffe, die Verhalten beschreiben
oder im Alltagsleben fundiert sind. Dafür umso mehr die Begriffe des
Erlebens,
der Entwicklung und Persönlichkeit, die sich der direkten Beobachtung
entziehen. Zum Einstieg kann man die Einteilung des Psychologiestudiums
heranziehen, z.B. die Allgemeine
Psychologie.
Der Wirklichkeitsstatus
von subjektiven Bewusstseinsinhalten
Das, was der Mensch erlebt und wenigstens umschreibend in Begriffe
oder wenigstens kognitive Schemata fassen kann, ist nicht weniger real
oder wirklich als der Stuhl, auf dem ich sitze oder die Sonne, die sich
scheinbar um die Erde dreht. Akzeptiert man allerdings nur intersubjektiv
Nachprüfbares als potentiell real oder wirklich, kann es - derzeit
noch - schwierig werden mit dem Wirklichkeitsstatus subjektiver Bewusstseinsinhalte.
Das Problem ist, dass Bewusstseinsinhalte oft sehr flüchtig und unscharf
sind. aber das gilt im Prinzip für mikrophysikalische
Prozesse noch sehr viel stärker. Mit geeigneter Methodologie
und Terminologie ist es grundsätzlich möglich, subjektive Bewusstseinsinhalte
ziemlich genau zu bestimmen.
Der Wirklichkeitsstatus
von soziologischen Begriffen (ausführlich hier: Ontologie
des Psychosozialen)
Berger & Luckmann nennen ihr Werk »Die gesellschaftliche
Konstruktion der Wirklichkeit«, Searle nennt sein Werk hingegen
»Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit«.
Den ebenso feinen wie wichtigen Unterschied erläutert Helmut Plessner
in seinem Vorwort (S. IX) zu Berger
& Luckmann:
Zu den Grundfragen der soziologischen Begriffe gehört das Problem
der genauen Bedeutung ihrer Begriffe, wie z.B.: die Gesellschaft, der
Staat, die Demokratie, die Kirche, das Recht, die Arbeiterklasse, Elite,
Solidarität, Wandel, Gerechtigkeit, Armut, Gleichheit, Gemeinwohl.
Institutionen, die Parteien, und ... und ...
Eroerterung
am Beispiel die Gesellschaft
Es ist sehr üblich und weit verbreitet von der Gesellschaft
zu sprechen. Manchmal sogar, als sei sie ein eigenständiges und handlungsfähiges
Wesen. Aber wer oder was soll das genau sein? Man kann nicht auf sie deuten,
man kann sie nicht aufzählen, es scheint sie zwar zu "geben", und
jeder meint zu verstehen, was gemeint ist, wenn von der Gesellschaft
gesprochen wird, und doch ist es sehr schwierig, die Gesellschaft
genauer zu bestimmen. Daraus könnte man den Schluss ziehen oder sogar
den Vorschlag entwickeln, dass man sich an manchen Stellen mit ungefähren
Bedeutungen begnügen sollte. Die Gesellschaft befindet
sich in einem steten Wandel, so dass eigentlich auch eine Zeitangabe dazu
gehört. Und die Gesellschaft besteht aus vielen, sehr vielen
Faktoren (Elementen, Gruppierungen, Institutionen, Bereichen und Facetten).
So sprach Popper in einem viel beachteten Werk von der offenen
Gesellschaft und ihren Feinden. Damit wendete er sich gegen Ideologien
überwiegend totalitären Charakters ("Historizisten"), hauptsächlich
gegen Platon, Hegel, Marx, deren Anhänger und Folgen und plädiert
für kritische Freiheit. Die Gesellschaft ist ein sehr
komplexes und sehr heterogenes geistiges Modell. Eigentlich sollten die
SoziologInnen erklären können, was die Gesellschaft
bedeutet bzw. so alles bedeuten kann.
Der Wirklichkeitsstatus von gesellschaftlichen Institutionen
> Ontologie des Psychosozialen.
Die naturwissenschaftliche Codierung des Erlebens und die Natur des Erlebens Das Erleben hat zwei Dimensionen: eine materielle, die Basis für die psychologische Dimension des Erlebens und das Erleben. Als metaphorische Analogie kann die Doppelnatur des Lichts dienen (Materie und Welle). Die naturwissenschaftliche Codierung kann bis auf weitere und detailliertere Erkenntnisfortschritte mit der Variable natcode symbolisiert werden. "Ich fühle Ärger" wird dann codiert als [natcode, "ich fühle Ärger"] Das erklärt auch problemlos, dass Erleben Einfluss auf den Körper hat, weil es eben auch körperlich oder materiell ist.
Das Problem des Vergaenglichen Die Sachverhalte, Objekte und Zustände sind vergänglich, nicht wenige in Sekundenschnelle. Das Wirkliche gehört dann der Vergangenheit an. In welcher Weise ist es dann noch wirklich? Wenn es gespeichert wurde, etwa im Gedächtnis, dann kann auch das Vergangene noch wirksam und damit wirklich sein.
Das Problem des Veraenderlichen
Die
Sachverhalte, Objekte und Zustände bleiben nicht konstant, sondern
verändern sich (Heraklit: Alles fließt, man kann nicht zwei
Mal in denselben Fluß steigen). Hier liegt ein gewisses Paradox,
das sich besonders scharf beim Identitätsproblem
zeigt.
Was heißt angesichts der ununterbrochenen
Veränderung "Wirklichkeit"? Welche "Wirklichkeit" ist gemeint? Wie
James sinnig vom Bewusstseinsstrom sprach, müssten wir eigentlich
auch von einem Wirklichkeitsstrom sprechen, denn auch die Wirklichkeit
fließt in einem fort, von Augenblick zu Augenblick . Streng betrachtet
lässt sich die Metapher Heraklits verallgemeinen zu: es gibt keine
zwei gleichen Augenblicke. Andererseits gibt es Zustände, die gleich
bleiben, etwa der Zustand "verheiratet" sein, der mit der Scheidung oder
dem Tod endet, also durchaus 50-60 Jahre konstant anhaltend sein kann.
Wenn wir Menschen, Charaktere und Persönlichkeiten beschreiben, suggeriert
unsere Sprachgebrauch Konstanzen, die es genau betrachtet gar nicht gibt,
wenn etwa einem Menschen eine gwisser Intelligenzquotient (IQ)
oder das Persönlichkeitsmerkmal zuverlässig zugeordnet
wird.
Das Problem des Standpunkts und der Perspektive Ein und dasselbe Objekt stellt sich für unterschiedliche Betrachter (Erkennende Systeme) unterschiedlich dar. Das kann auch für denselben Betrachter gelten, wenn er unterschiedliche Perspektiven einnimmt. Spätestens seit der Relativitätstheorie sind auch unsere grundlegenden Kategorien wie Zeit und Raum betroffen, wenn auch im menschlichen Alltag kaum messbar.
Das Problem der Egozentrik Viele Menschen gehen ganz natürlich von sich, ihren Erfahrungen und ihrem Wissen aus. Aber so wie sich die Sachverhalte für ein einzelnes Individuum darstellen, so müssen sie nicht für andere sein.
Das Problem des Scheins Nur weil wir "nichts" wahrnehmen, muss nicht nichts da sein. Was uns als nichts erscheint gilt ja relativ zu unseren Sinnesorganen und Wahrnehmungsschwellen. Wir können immer nur sagen: das erkennende System ES hat keine (bewusste) Wahrnehmung.
Die Konstruktion des Objektiven
Das Ding an sich
kennen wir nicht und werden es niemals kennen können, weil jede Erkenntnis
ein erkennendes System voraussetzt, an dessen Erkenntnismöglichkeiten
die Erkenntnis gebunden ist. Nehmen wir einen beliebigen Sachverhalt, etwa
irgendein Objekt, an und fragen uns, wie wir herausfinden können,
was das für ein Objekt ist und was an dieser Erkenntnis objektiv sein
könnte. Hierbei können uns z.B. die ontologischen Kategorien
(Auswahl) sehr hilfreich sein:
wirklich/Wirklichkeit in Enzyklopaedie
Philosophie und Wissenschaftstheorie
"wirklich/Wirklichkeit (engl, real/reality, franz. reel/realite), in
alltags- und bildungssprachlicher Verwendung dasselbe wie real/Realität,
im Rahmen philosophischer Terminologien ebenso wie >Realilät< und
im Gegensatz zu »Möglichkeit (>möglich/Möglichkeit)
Bezeichnung für die Welt der Gegenstände, Zustände und Ereignisse,
auch der durch den Menschen hergestellten Dinge und in Gang gesetzten Entwicklungen.
In dieser Bedeutung wird der Terminus >W.< zuerst von Aristoteles im
Zusammenhang seiner Prinzipienanalyse eingeführt. ... " Quelle:
Mittelstraß, Jürgen (1996, Hrsg.) Enzyklopädie Philosophie
und Wissenschaftstheorie. 4. Bd. Metzler, Stuttgart.
__
Wirklichkeitsbegriff bei Ernst Mach:
"... Nichts ist wirklich, was nicht unter gewissen Bedingungen, die sinnlichen
Elemente, den Bewußtseinsinhalt dieses oder jenes Menschen
beeinflussen kann. Was wir erlebt haben, hinterläßt uns
Erinnerungen, Vorstellungen. ..." In: Die Empfindungen, 9. A., 1922, S.
303, Zusatz I zu S. 30.
__
Wirklichkeitsbegriff im Buddhismus:
Schumann (1998, S. 222, kursiv-fett RS): "Der Abendländer, daran gewöhnt,
nur Nachprüfbares für wirklich zu nehmen, hält ideierte
Wesenheiten, die nur ihrem Urheber sichtbar sind, für Wahngebilde.
Der Vajrayänin denkt anders. Wirk-lichkeit ist alles,
das wirk-sam ist, gleichgültig ob äußerlich
oder innerlich, für einen oder viele. ..." Siehe auch Austeda:
"Wirklichkeit als dasjenige, was, „wirkt""
__
Wirklichkeit nach Austedas Wörterbuch
der Philosophie, S. 263:
"Wirklichkeit: mehrdeutiger philosophischer Grundbegriff. 1.
Die Welt der Erlebnisse (Quelle der Wirklichkeitsgewißheit); durch
die kategoriale Bearbeitung der unmittelbar gegebenen Empfindungsmannigfaltigkeit
entsteht 2. die anschauliche Welt der Sinnendinge, die sinnlich wahrnehmbare
Erscheinungswelt, in der sich Forschung treiben läßt, die in
Form von Aussagen beschreibbar ist, in der es „Erkenntnis" und „Wahrheit"
gibt („wirklich" in diesem Sinne ist, was sich als mit allen anderen Erfahrungen
verträglich erweist). Will man die Erscheinungen „verstehen", dann
ist man 3. zur Annahme einer physikalischen Kraftwelt genötigt (Wirklichkeit
als dasjenige, was „wirkt"). 4. Darüber hinaus nehmen die Metaphysiker
noch eine transzendente Überwirklichkeit an (in „horizontaler" Richtung
die „Wirklichkeit an sich", in „vertikaler" Richtung die göttliche
Überwelt). Die „Vollwirklichkeit" ist ein gedanklich unvollziehbarer
Grenzbegriff (eine Fiktion); denn immer zeigt uns „die Wirklichkeit" (je
nach der Optik des Betrachters) nur eine bestimmte „Seite", deren Verabsolutierung
verzerrte Weltbilder entspringen. Auch die Einzelwissenschaftler müssen
je nach Erkenntnisziel die Wirklichkeit von verschiedenen Standpunkten
aus anvisieren und auf bestimmte Begriffsebenen projizieren. Ein umfassendes
Weltbild aufzubauen, ist Aufgabe des Philosophen (vgl. Wirklichkeitstheorie);
aber auch dieses kann nur ein „offenes" sein, da die wissenschaftliche
Erforschung der Wirklichkeit ständig fortschreitet. - Vgl. Außenwelt,
Sein, Mechanistik."
__
Watzlawickscher
Wirklichkeitsbegriff in Wie wirklich ist die Wirklichkeit?
"Dieses Buch handelt davon, daß die sogenannte Wirklichkeit das
Ergebnis von Kommunikation ist. Diese These scheint den Wagen vor das Pferd
zu spannen, denn die Wirklichkeit ist doch offensichtlich das, was wirklich
der Fall ist, und Kommunikation nur die Art und Weise, sie zu beschreiben
und mitzuteilen.
Es soll gezeigt werden, daß dies nicht so
ist; daß das wacklige Gerüst unserer Alltagsauffassungen der
Wirklichkeit im eigentlichen Sinne wahnhaft ist, und daß wir fortwährend
mit seinem Flicken und Abstützen beschäftigt sind - selbst auf
die erhebliche Gefahr hin, Tatsachen verdrehen zu müssen, damit sie
unserer
Wirklichkeitsauffassung nicht widersprechen, statt umgekehrt unsere Weltschau
den unleugbaren Gegebenheiten anzupassen. Es soll ferner gezeigt werden,
daß der Glaube, es gäbe nur eine Wirklichkeit, die gefährlichste
all dieser Selbsttäuschungen ist; daß es vielmehr zahllose Wirklichkeitsauffassungen
gibt, die sehr widersprüchlich sein können, die alle das Ergebnis
von Kommunikation und nicht der Widerschein ewiger, objektiver Wahrheiten
sind.
Die enge Beziehung zwischen Wirklichkeit und Kommunikation
ist erst in letzer Zeit Gegenstand eingehenderer Untersuchungen geworden.
Aus diesem Grunde hätte dieses Buch noch vor dreißig Jahren
nicht geschrieben werden können. Und doch enthält es nichts,
das sich nicht seit längster Zeit hätte denken, erforschen und
anwenden lassen. Oder anders ausgedrückt: Die hier beschriebenen Sachverhalte
waren unserem Denken nicht nur schon vor Jahrzehnten, sondern in ihren
Ansätzen bereits der Antike zugänglich; was aber fehlte, war
die Bereitschaft oder auch nur der Anlaß, sich mit dem Wesen und
den Wirkungen der Kommunikation als eigenständigem Phänomen [>8]
auseinanderzusetzen. Freilich hatten Physiker und Fernmeldetechniker die
Probleme der Nachrichtenübermittlung bereits weitgehend gelöst,
wohl hatte die Linguistik unser Wissen vom Ursprung und Aufbau der Sprachen
auf wissenschaftliche Grundlagen gestellt, und hatte die Semantik schon
längst die Bedeutung von Zeichen und Symbolen zu untersuchen begonnen.
Aber das Studium der sogenannten Pragmatik der menschlichen Kommunikation,
das heißt der Art und Weise, in der sich Menschen durch Kommunikation
gegenseitig beeinflussen, wie dabei ganz verschiedene »Wirklichkeiten«,
Weltanschauungen und Wahnvorstellungen entstehen können, dieses Studium
ist ein verhältnismäßig neuer Zweig der Forschung. Die
Frage, die dieses Buch zu beantworten versucht, ist: Wie wirklich ist,
was wir naiv und unbesehen die Wirklichkeit zu nennen pflegen?
Es ist die unverblümte Absicht dieses Buchs,
unterhaltend zu sein und dem Leser in anekdotischer Form gewisse willkürlich
ausgewählte Gebiete der Kommunikationsforschung vorzulegen, die ungewöhnlich,
merkwürdig und vielleicht sogar unglaublich sind, trotzdem (oder vielleicht
gerade deshalb) aber unmittelbar an der Entstehung und Ausbildung von Wirklichkeitsauffassungen
beteiligt sind. Dem Pedanten mag diese Form der Darstellung, oberflächlich
und unwissenschaftlich erscheinen, doch sollte er sich vor Augen halten,
daß es zwei grundsätzlich verschiedene Formen wissenschaftlicher
Erklärung gibt. Die eine beginnt mit der Formulierung einer Theorie
und führt dann den Nachweis ihrer Gültigkeit für das Verständnis
von Erfahrungstatsachen.*
Die andere Methode besteht im Vorlegen einer großen Zahl von
Beispielen aus verschiedensten Gebieten und versucht, auf diese praktische
Weise aufzuzeigen, welche Struktur diesen scheinbar ganz verschiedenen
Beispielen gemeinsam ist und welche Schlußfolgerungen sich daraus
ziehen lassen. Bei den beiden Methoden fällt dem Gebrauch von Beispielen
also sehr verschiedene Bedeutung zu. In der ersten müssen die Beispiele
Beweiskraft haben. In der zweiten ist ihre Rolle die von Analogien, Metaphern
und Veranschaulichungen - sie sollen beschreiben, in leichter verständliche
Sprache über- [>9] setzen, doch nicht notwendigerweise auch beweisen.
Dieses Vorgehen erlaubt daher den Gebrauch von Exemplifikationen, die nicht
im strengen Sinne des Wortes wissenschaftlich zu sein brauchen; wie etwa
die Verwendung von Zitaten aus Dichtung und Romanen, von Anekdoten und
Witzen und schließlich sogar den Gebrauch rein imaginärer Denkmodelle
- ein Vorgehen, das Maxwell mit der Postulierung seines Dämons schon
vor vielen Jahren respektabel gemacht hat.
Dieses Buch beruht auf der zweiten Methode,
und ich hoffe, es dem Leser dadurch zu ermöglichen, an die komplexen
Probleme der Wirklichkeitsauffassung und -anpassung sozusagen durch die
Hintertür heranzukommen.
Die hier folgenden Ausführungen setzen weder
ein Verständnis von Formeln noch von abstrakter Theorie voraus. Im
Gegenteil, das Buch will erzählen und erzählend Wissen vermitteln.
Der Leser soll es irgendwo aufschlagen und, je nach Lust und Laune, dort
zu lesen beginnen oder weiterblättern können. Wo aber sein Interesse
geweckt wird und er sich über das betreffende Thema näher zu
informieren wünscht, sollen ihm die Literaturhinweise den Zugang zu
den Quellen erleichtern. In ähnlicher Weise dürfte der Student
der Sozial- oder der Verhaltenswissenschaften in diesen Seiten Anregungen
für eigene Forschungsprojekte oder für Dissertationsthemen finden.
Es ist ferner meine Hoffnung, dieses Buch möge auch einen anderen
Zweck erfüllen. Wie bereits angedeutet, ist der Glaube, daß
die eigene Sicht der Wirklichkeit die Wirklichkeit schlechthin bedeute,
eine gefährliche Wahnidee. Sie wird dann aber noch gefährlicher,
wenn sie sich mit der messianischen Berufung verbindet, die Welt dementsprechend
aufklären und ordnen zu müssen - gleichgültig, ob die Welt
diese Ordnung wünscht oder nicht. Die Weigerung, sich einer bestimmten
Definition der Wirklichkeit (zum Beispiel einer Ideologie) zu verschreiben,
die «Anmaßung», die Welt in eigener Sicht zu sehen und
auf eigene Facon selig zu werden, wird immer häufiger zum »think-crime«
in Orwells Sinne abgestempelt, je mehr wir uns dem Jahre 1984 nähern.
Vielleicht kann dieses Buch einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, den
Blick für bestimmte Formen psychologischer Violenz zu schärfen
und so den modernen Gehirnwäschern und selbsternannten Weltbeglückern
die Ausübung ihres üblen Handwerks zu erschweren. [>10]
Das hier zusammengetragene Material beruht teils
auf meiner ursprünglichen Ausbildung in Sprachen und Philosophie und
teils auf den fünfundzwanzig Jahren meiner Arbeit als Psychotherapeut,
von denen ich die letzten fünfzehn Jahre als Forschungsbeauftragter
am Mental Research Institute in Palo Alto hauptsächlich mit dem Studium
klinischer Aspekte der menschlichen Kommunikation verbracht habe. Andere
Teile dieses Buchs leiten sich aus meiner Tätigkeit als Assistenzprofessor
für Psychiatrie an der Stanford-Universität und als Konsulent
und Gastvorlesender an anderen Universitäten und psychiatrischen Forschungs-
und Ausbildungsinstituten in Nordamerika, Europa und Lateinamerika ab.
Mit einigen der hier erwähnten Themen und Untersuchungen habe ich
nur oberflächliche Berührung gehabt, während schließlich
mein Wissen von anderen rein theoretisch und indirekt ist. Es versteht
sich aber von selbst, daß ich mich für die Form meiner Ausführungen
und alle Irrtümer und Fehler ausschließlich selbst verantwortlich
betrachte.
Wie der Untertitel nahelegt, umfaßt das Buch
drei Teile. Teil I handelt von Konfusion, das heißt von Kommunikationsstörungen
und den daraus folgenden Verzerrungen des Wirklichkeitserlebnisses. Teil
II untersucht den etwas exotischen Begriff der Desinformation, womit jene
Komplikationen und Störungen der zwischenmenschlichen Wirklichkeit
gemeint sind, die sich bei der aktiven Suche nach Information oder der
absichtlichen Verschleierung oder Verweigerung von Informationen ergeben
können. Teil III ist den faszinierenden Problemen der Anbahnung von
Kommunikation dort gewidmet, wo noch keine besteht - also den Fragen, die
sich auf das Zustandebringen einer allen Partnern zugänglichen Wirklichkeit
beziehen, ob diese Partner nun Tiere, die Bewohner anderer Planeten oder
rein imaginäre Wesen sind.
*"Ein ausgezeichnetes Beispiel für diese Form
der Darstellung derselben Thematik ist Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns
Buch »Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (S. Fischer
Verlag, 1970); mit den Worten der Autoren »eine systematische, theoretische
Abhandlung zur Wissenssoziologie«."
Wir danken dem Piper-Verlag für die freundliche
Genehmigung (vom 06.09.2017 12:30) des Abdrucks hier: Paul Watzlawick:
Wie wirklich ist die Wirklichkeit © 1978 Piper Verlag GmbH, München.
Hinweis: Gesperrtschrift bei Külpe hier fett.
"Einleitung.
1. Das Problem der Realisierung. Eine der ältesten und
wichtigsten Fragen der Philosophie zielt auf das wahrhaft Seiende, das
dem Schein und Trug der Sinne, zufälliger Meinung und willkürlicher
Setzung entrückt ist. Um dieses Seiende bemühten sich schon die
Vorsokratiker, namentlich die Eleaten, und Platon hat ihm darnach tief
eindringende Untersuchungen gewidmet. Zu einer sehr praktischen Angelegenheit
wurde es für die erwachende Naturwissenschaft der Neuzeit, die ein
Kriterium der Körperlichkeit brauchte. Ontologismus, Mystik und Selbstanschauung
fanden daneben einen unmittelbaren Weg zu ihm. überall wo ein Gegebenes,
Vorgefundenes, kurz Erfahrung sich darbot, mußte das Bedürfnis
entstehen, den Reflex der in das Bewußtsein hereinwirkenden Mächte,
die reine Tatsächlichkeit, von den besonderen Bedingungen zu trennen,
die ihre Auffassung und Vorstellung begleiten. Unter diesem Gesichtspunkte
entwickelte sich die Erfahrungswissenschaft, nachdem bereits das Leben
eine entsprechende Sonderung nahegelegt und ausgebildet hatte FNS1.1).
[>2]
So treffen wir denn in den heutigen Natur- und Geisteswissenschaften
allenthalben Beschreibungen und Theorien von Gegenständen, die ein
wahrhaft Seiendes oder Gewesenes sein sollen. Von den Elektronen der Physik
und den Himmelskörpern der Astronomie, durch die Elemente der Chemie
bis zu den Mineralen, Pflanzen und Tieren der sog. beschreibenden Naturwissenschaften
führt eine einheitliche und gleichartige Bemühung um Feststellung
solcher Gegenstände. Mag auch die Analyse und Vergleichung von Sinneseindrücken
überall der Ausgangspunkt dieser Arbeit gewesen sein, zweifellos ist
man bei ihnen nicht stehen geblieben, sondern bestrebt gewesen, ein Seiendes
zu finden und zu bestimmen, das auch beim Verlöschen der Sinneseindrücke
als fortdauernd angesehen werden konnte. In den Geisteswissenschaften verhält
es sich nicht anders. Wer Bau und Entwicklung der Sprachen studiert, wer
Sitten und mythologische Vorstellungen, Kunst und Recht, Staat, Wirtschaft
und Gesellschaft untersucht, ist gleichfalls auf die eigentliche Natur
aller dieser Gegenstände, auf ihr wahrhaft Seiendes oder Gewesenes
gerichtet. Mag auch der Anteil der Phantasie an der Versenkung in solche
Gebilde gelegentlich betont werden, nicht als eine freie, selbständig
schaffende, sondern nur als eine nacherlebende, also von gegenständlichen
Vorlagen abhängige Betätigung des forschenden Geistes wird sie
hier zugelassen. Selbst in der Psychologie, die ja meist als Bewußtseinswissenschaft,
als eine Lehre vom unmittelbar Gegebenen behandelt zu werden pflegt, ist
der Zug zum wahrhaft Seienden unverkennbar. Sobald man von realpsychischen
Vorgängen, von einer Seele und deren Fähigkeiten und Leistungen,
ja auch nur von Empfindungen, Vorstellungen und Gefühlen als Elementen
des Seelenlebens redet, hat man bereits die Grenze des unmittelbar Vorgefundenen
überschritten und ist dazu übergegangen, das Seelenleben als
[>3] einen für sich seienden Tatbestand aufzufassen und zu bestimmen.
Wir wollen das Verfahren, das man in allen diesen
Wissenschaften einschlägt, um in der Erfahrung und aus ihr heraus
ein wahrhaft Seiendes oder Gewesenes zu erkennen, die Realisierung
nennen, und den Gegenstand, auf den sie gerichtet ist, das Reale
oder die Realität FNS3.1). Der übliche
Sprachgebrauch verbindet mit dem Ausdruck Realisierung den Gedanken einer
Herstellung, eines Tuns und Erzeugens (Realisierung einer Absicht, einer
Idee, eines Plans u. dgl.). Davon soll hier natürlich abgesehen werden.
Unser Begriff der Realisierung ist eine Art desjenigen der Erkenntnis.
Er bezeichnet ein Forschungsverfahren, bei dem das zu erfassende Reale
vorausgesetzt, nicht erst hervorgebracht wird. Nur die Gedanken, in denen
wir es darzustellen und zu verstehen suchen, werden erzeugt und gestaltet.
Wir reden in diesem Sinne von einer naturwissenschaftlichen, psychologischen,
geisteswissenschaftlichen, metaphysischen Realisierung, je nachdem auf
welchen Gebieten sich die Erkenntnis von Realitäten vollzieht. Ihre
Zulässigkeit und Möglichkeit wird unser Problem sein. Damit stellen
wir uns zugleich die Aufgabe, der Methode genauer nachzugehen, die in den
verschiedenen Wissenschaften bei der Realisierung befolgt wird. Hier läßt
sich sofort eine zweifache Form der letzteren aufführen: die Setzung
FNS3.2),
Erfassung, Annahme von Realitäten und deren Bestimmung, Wesensangabe,
Charakteristik. Jene liegt vor, wenn lediglich das Sein eines Realen, seine
Existenz behauptet, diese, wenn über die Beschaffenheit desselben,
seine Essenz ausgesagt wird. Kants Annahme eines Dinges an
sich, dessen Wesen [>4] uns gänzlich unerkennbar bleibe, ist
ein typischer Fall von Realisierung im Sinne bloßer Setzung eines
Realen. Der Aufgabe, eine Theorie der Realisierung zu liefern, hat sich
die Erkenntnistheorie bisher fast ganz entzogen. Das Problem der Außenwelt
ist allein berücksichtigt worden, als wenn nicht alle Erfahrungswissenschaften
Reales setzten und bestimmten, und die Behandlung jenes Problems ist über
die allgemeine Frage nach der Annahme und deren Berechtigung kaum hinausgegangen.
Und doch liegt hier eine so bedeutende und fruchtbare Aufgabe für
die philosophische Untersuchung vor, wie sie größer und bleibender
schwerlich gedacht werden kann. Das ergibt sich aus der Formulierung
der Fragen, die im Problem der Realität enthalten sind:
1. Ist eine Setzung von Realem zulässig?
Diese Frage wird von zwei einflußreichen erkenntnistheoretischen
Richtungen, dem Konszientialismus oder Wirklichkeitsstandpunkt
und dem objektiven Idealismus verneint. Nach jenem hat sich die
Erfahrungswissenschaft auf die im Bewußtsein gegebenen Tatsachen,
die Sinneseindrücke, Vorstellungen, Gefühle, Gedanken oder das
Wirkliche,
das unmittelbar Gegenwärtige zu beschränken. Jede
Überschreitung dieses Gebiets führt in phantastische, spekulative,
metaphysische Annahmen. Eine Theorie der Realisierung hat sich daher zunächst
mit dem Wirklichkeitsstandpunkt auseinanderzusetzen, der für das Problem
der Außenwelt meist die Form des subjektiven Idealismus angenommen
hat. Der objektive Idealismus dagegen identifiziert die realen
Objekte mit den idealen der Idealwissenschaften und sucht
alle Forschung auf den Typus der letzteren zurückzuführen.
Das Denken erweist sich überall schöpferisch und läßt
nirgends eine Selbständigkeit von Objekten zu, wie sie der Realismus
voraussetzt. Auch mit dieser Richtung haben wir abzurechnen, ehe wir an
die positive zweite Frage herantreten können.
2. Wie ist eine Setzung von Realem möglich?
Hier sind die Gründe zu erörtern und zu prüfen, die zu der
allgemeinen Realisierung, zu der bloßen Annahme eines Realen [>5]
führen. Als solche Gründe sind empirische,
rationale
und gemischte aufgestellt worden. Die empirischen beruhen
auf der Annahme, daß bestimmte Erfahrungen, wie z. B. die Eindrücke
des Tast- und Muskelsinns, vor anderen als realisierbar zu gelten haben.
Die rationalen Gründe machen gewisse Formen und Gesetze des Denkens,
der Verstandes- und Vernunfttätigkeit, wie z. B. die sog. Transzendenz
des Denkens oder die Widerspruchslosigkeit, zum Fundament einer Realisierung.
Die gemischten endlich, die empirische und rationale Momente in sich enthalten,
lassen eine Setzung von Realem dadurch entstehen, daß sie bestimmte
Erfahrungen mit bestimmten Denkformen verbinden, wie z. B. die Annahme
einer Ursache für die Sinneseindrücke. Aus der Kritik dieser
Gründe ergibt sich in Verbindung mit einer Würdigung der in den
Erfahrungswissenschaften tatsächlich wirksamen Kriterien der Realität,
was zu der Setzung derselben in den einzelnen Realwissenschaften berechtigt.
3. Ist eine Bestimmung von Realem zulässig?
Auch diese Frage hat eine negative Beantwortung erfahren, indem der Phänomenalismus
sich mit der bloßen Setzung von Realem begnügen zu sollen erklärt.
Hiernach muß zwar ein Reales angenommen werden, aber seine Bestimmung,
die Angabe seines Wesens ist unmöglich. Diese schon in
der antiken Skepsis vertretene, später namentlich von Kant durchgeführte
Lehre fordert eine Auseinandersetzung mit ihren Argumenten. Wir dürfen
unsere dritte Frage nur bejahen, nachdem wir den Phänomenalismus gewogen
und zu leicht befunden haben.
4. Wie ist eine Bestimmung von Realem möglich?
Mit dieser Frage ist das letzte Problem unserer Theorie der Realisierung
bezeichnet. In ihm münden alle anderen. Die
Realwissenschaften bleiben nirgends bei bloßen Setzungen stehen,
sie schreiten überall zu Bestimmungen, wenn auch provisorischen oder
nur in allgemeiner Fassung aufgestellten weiter. Die Theorie
dieser Realisierungen setzt zweierlei voraus: erstlich eine erkenntnistheoretische
Würdigung des [>6] Denkens als des Organs, dessen man sich
bei ihrer Ausführung zu bedienen hat; zweitens eine Angabe der besonderen
Gründe,
die eine Bestimmung von Realem ermöglichen. Auch hier kann zwischen
empirischen, rationalen und gemischten Gründen unterschieden werden.
Darnach ist den einzelnen Formen oder Methoden der Realisierung
eine Untersuchung zu widmen und müssen die Grundsätze abgeleitet
werden, nach denen sie vorgehen dürfen.
Damit ist das Programm der vorliegenden Arbeit entworfen.
Die Durchführung kann nur die Bedeutung eines ersten Versuchs beanspruchen.
Es geht über das Vermögen des Einzelnen hinaus, eine vollständige
und in allem Wesentlichen unveränderliche Grundlegung der Realwissenschaften
durch eine erschöpfende Theorie der Realisierung zu schaffen.
Es muß genügen, ein Arbeitsfeld, auf dem viele friedlich nebeneinander
tätig sein können, in seiner Größe und Fruchtbarkeit
aufgezeigt und zu seiner sorgfältigen Einzelbestellung angeregt zu
haben. Als Voraussetzungen, die wir nicht erst zu begründen haben,
dürfen wir namentlich folgende anführen. Zunächst
eine allgemeine Gegenstandstheorie, d.h. eine Lehre von den für
alle Gegenstände des Denkens geltenden Bestimmungen. Ferner eine allgemeine
Erkenntnistheorie
und Logik als Lehre von den bei der Erkenntnis und ihrer Darstellung
in der Wissenschaft wirksamen und zulässigen Operationen und Methoden.
Sodann die vorgefundene Wirklichkeit des Bewußtseins FNS6.1),
die Erlebnisse in ihrer vollen und unmittelbaren Tatsächlichkeit und
Gegebenheit. Endlich die Formal- oder Idealwissenschaften,
die von idealen Objekten handelnden Disziplinen, unter denen die Mathematik
an erster Stelle steht. Es würde unsere Aufgabe allzusehr
belasten, wenn wir diese Voraussetzungen noch erst genauer entwickeln wollten.
Dagegen müssen wir eine kurze Übersicht der für unser Vorhaben
in Betracht kommenden Auffassung der erstgenannten Wissen[>7]schaften geben,
weil wir hier nicht, wie bei der Idealwissenschaft der Mathematik, einfach
auf den consensus der Forscher verweisen dürfen.
Wirklichkeitsbegriff bei den radikalen
Konstruktivisten
Von Glasersfeld erläutert seine Ideen in Fiktion und Realität
aus der Perspektive des radikalen Konstruktivismus (1991). Er führt
S. 2f aus: "Realität und Wirklichkeit
FN1 Diese Trennung der Begriffe wurde von Stadler & Kruse (1986) empfohlen."
Kritische Anmerkung Der Grundfehler der radikal
konstruktivistischen Denkweise ist, dass "erkennbar" mit "objektiv", also
"objektiv erkennbar", verkettet wird. Damit wird ein Pappkamerad aufgestellt,
den kaum einer jemals vertreten hat oder das Kind mit dem Badewasser ausgeschüttet.
Selbstverständlich ist die Realität eine Konstruktion, das bestreitet
ja niemand, aber deshalb ist sie noch nicht nicht vorhanden. Ich denke,
es ist viel viabler, zweckmäßiger, nützlicher und
praktischer eine reale Außenwelt, deren Bestandteil wir sind, anzunehmen.
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korrigiert: irs 02.11, 01.11.2017, 29.10.12017