Die Sprache der Psychoanalyse,
ihr Perversionsbegriff
und
ihre Behandlung der Homosexualitaet
-
Eine Menschen achtende und wissenschaftliche
Krankheitslehre - ein "Richtlinienverfahren"?
von Rudolf Sponsel, Erlangen
Querverweise.
Einleitung: Was sagt die Sprache über ihre BenutzerInnen?
Die Worte "pervers", polymorph-pervers" (Freud), "abartig", "krankhaft", "homosexuell", "missraten" (Adler) "NeurotikerIn", "Perverse" sind nicht nur einfach Worte oder Bezeichnungen. Diese Worte haben auch sehr starke soziale Auswirkungen und enthalten für viele Menschen eine - meist sehr starke negative - Wertung. Fachlich gesehen repraesentieren diese Worte manchmal auch (Pseudo) Diagnosen hinter denen ganze (Pseudo) Krankheitslehren stecken. Nun, die Verteufelung, Entwertung, Pathologisierung, Ausgrenzung und sogar die Verfolgung der Homosexualität hat eine lange und weltweite Tradition. In der Entwertung und Pathologisierung waren selbst so verschiedeneartige Institutionen wie die katholische Kirche, traditionelle Psychoanalyse - bis in die jüngste Zeit - und der Nationalsozialismus einer Meinung: homosexuell sei unnatürlich, krank, pervers und müsse bekämpft oder therapiert werden.
Nicht nur die Wahl und Beibehaltung der Worte, sondern auch die Art und Weise wie sie gebraucht werden, sagt etwas aus über die BenutzerInnen. Schauen wir also: Wie nennen PsychoanalytikerInnen ihre Gegenstände und wie sprechen sie darueber? Und nicht nur das: Der weit verbreitete Eifer, die Genugtun und die Lust andere als abartig, pervers, entartet zu klassifizieren erscheint nicht selten selbst als eine sehr bedenkliche Abweichung.
Natürlich gibt es Fälle, die wohl fast jeder mit dem Wertbegriff pervers brandmarken würde. Aber diese Fälle sind, was die sexuellen Abweichungen betrifft eher selten. Einer der schlimmsten Fälle der Menschheitsgeschichte - Herzog Gil de Rais (1404-1440) - wurde von Pelmann (S. 118-121) beschrieben. Gegenüber diesen ist der Vielfachmörder Haarmann geradezu ein Weisenknabe. Gerade weil es die entsetzlichen Naturen gibt, sollte man mit dem Gebrauch des Wortes "pervers" sehr vorsichtig und zurückhaltend sein. In der Psychoanalyse und ihrer Krankenkassenausgabe Analytische Psychotherapie sucht man diese Zurückhaltung und Vorsicht seit bald 100 Jahren vergebens. Selbst heute finden sich in zahlreichen Lehrbüchern bei der Abhandlung sexueller Abweichungen die Haupt- oder Nebenüberschrift "Perversionen".
Entwicklung der psychoanalytischen Lehre von der Homosexualitaet
Freud und die Freudsche
Schule
Von den vielen konservativen und diskriminierenden psychoanalytischen
Lehrmeinungen gehoert Freud selbst noch mit zu den differenziertesten,
wenngleich in der ersten seiner "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie"
(1905) "die Inversion", wie Freud die gleichgeschlechtliche Orientierung
oder die Homosexualitaet nannte, als "Abweichungen in Bezug auf das Sexualobjekt"
unter die Ueberschrift "I. Die sexuellen Abirrungen" eingliederte.
Damit wird die Homosexualitaet als "Abirrung" gelabelt. Nach Freud
koennen konstitutionelle und lebensgeschichtliche Faktoren unterschiedlich
stark zusammen spielen (multifaktorieller Ansatz) und der Mensch durchlaeuft
gewoehnlich in seiner Entwicklung mehrere Orientierungen (Stufentheorie).
Wann solche Abirrungen oder Perversionen Krankheitswert haben, haengt nach
Freud ab von:
"Wenn die Perversion nicht neben dem Normalen (Sexualziel
und Objekt) auftritt, wo guenstige Umstaende dieselbe foerdern und unguenstige
das Normale verhindern, sondern wenn sie das Normale unter allen Umstaenden
verdraengt und ersetzt hat - in der Ausschliesslichkeit und in der Fixierung
also der Perversion sehen wir zu allermeist die Berechtigung, sie als krankhaftes
Symptom zu beurteilen."
(Bd. V Studienausgabe, S. 70f). |
Damit ist, ohne dass Freud erklaeren und begruenden wuerde, was er damit meint, eine unbekannte und nicht definierte "Normalitaet" als deus ex machina zum Kriterium erhoben worden, womit er im Grunde nur die Heterosexualitaet meinen kann, wenn er egozentrisch von seiner zufaelligen anthropologischen Kulturumgebung als Masstab3) ausgeht, was Freud immer tut, obwohl ihm doch einerseits die alten Griechen qua Neigung und Bildung sehr und andere Kulturen z. B. durch Frazers "Goldenen Zweig" zumindest nahe sein sollten.
Fenichel. Otto Fenichel (1897-1946) gilt
als der Systematiker des psychoanalytischen Neurosenlehre, worueber er
ein dreibaendiges Werk mit zwei Ergaenzungen vorlegte. Seine Psychoanalytische
Spezielle Neurosenlehre (1931) traegt den Titel "Perversionen, Psychosen,
Charakterstoerungen". Die Homosexualitaet wird unter den "Perversionen"
relativ ausfuehrlich abgehandelt, ebenso im Bd. II der psychoanalytischen
Neurosenlehre, wo die Homosexualitaet ebenfalls unter den "Perversionen"
eingeordnet ist (S. 192-209).
Die Perversionen werden allgemein charakterisiert:
"Perverse sind Personen mit einer infantilen, statt einer erwachsenen Sexualitaet" (Bd. II, S. 189). |
Die voellige Unbekuemmertheit und selbstverstaendliche Egozentrik und Unbegruendetheit, mit der diese und andere Thesen vorgetragen werden, scheinen fuer das "Richtlinienverfahren Psychoanalyse" auch heute noch typisch.
Stekel (1923): Grund-Postulat: GP1 Alle
Menschen sind bi-sexuell und sollten sie demnach auch leben (S. 166). GP2
Grundlage ist eine multifaktorielle Psychogenese, d.h. auch, dass es keine
angeborene Homosexualitaet gibt (S. 167). GP3 In der Pubertaet komme
es zur Entscheidung: Heteros verdraengten ihre homoerotischen Anteile und
Faktoren, Homos ihre heterosexuellen (S. 166). GP4 Es gibt Heilung und
die besteht nicht nur in erfolgreicher gegengeschlechtlicher Betaetigung,
sondern im Verlieben in das andere Geschlecht. (S. 568)
"In sexuellen Dingen luegen alle Menschen und beluegen sich
in erster Linie selbst. Sie spielen Vogelstraußpolitik." (S.
160). Fuer Paradoxie-LiebhaberInnen: Luegt Stekel auch?
"Der Homosexuelle ist in erster Linie eine Rueckschlagserscheinung"
(S. 171). Aus unserer Perspektive wuerden wir sagen, das diese Wertung
Stekels eine "Rueckschlagserscheinung" ist.
Bemerkung: Wilhelm Stekel verliess 1912
die Wiener Psychoanalytische Vereinigung und gruendete 1923 eine eigene
Organisation. Inzwischen gibt es so viele psychoanalytische Schulen wie
es AnalytikerInnen gibt. 2)
Adler und
IndividualpsychoanalytikerInnen.
Adler 1930 (1974, S.199): "Die Gefahren des heterosexuellen Lebens
sieht der Homosexuelle in seinem Pessimismus außerordentlich groß,
so daß wir eigentlich selbstverständlich finden, wie er vor
allen Unternehmungen zurückschreckt, die ein Aufgehen in seiner Geschlechtsrolle
anbahnen könnten und seine Haltung ist so, als ob er die Zeit hemmen,
den Fortschritt, der natürlich wäre, aufhalten wollte. Wir kennen
seine Beweggründe. Aber der Homosexuelle kennt sie nicht, wehrt sich
auch, sie anzuerkennen.
Er nimmt für echt, worin wir einen Irrtum sehen, und er ist darin
außerdem gestützt durch die Irrtümer einer scheinbar sachverständigen,
wissenschaftlichen oder laienhaften Literatur, die ihm in seinem Urteil
über die Unabänderlichkeit recht gibt. Eine derartige Geistesdisposition,
in der der Homosexuelle lebt, phantasiert und handelt, macht ihn aber unverantwortlich.
Ein Eingreifen der Allgemeinheit ist dadurch absolut nicht verwehrt. Was
mir das wichtigste im Heilverfahren zu sein scheint, ist ja doch die Logik
des Lebens, die auch bei ihm durchschlägt, die ihn zum mindesten zu
einer großen Heimlichkeit veranlaßt die ihm auch Herzklopfen
verursacht, wenn er seiner fixen Idee, seiner Aufwallung nachgeht. Darin
bekundet sich die Stimme der Gemeinschaft, die unter allen Umständen
der Homosexualität abhold sein muß.
Zum Schluß noch ein Wort bezüglich der Hormonenlehre und
der Anschauung Steinachs und seiner Anhänger betreffs der Heilung
der Homosexualität durch Steigerung der Keimdrüsensekretion.
Der Homosexuelle ist ein schwer entmutigter Nervöser. Ihm fehlen die
seelischen Vorbereitungen für ein mitmenschliches Verhältnis
zum andersgeschlechtlichen Partner. Wer ihn ermutigt, kann ihn heilen.
Nach meiner Erfahrung können einzelne Fälle durch operative Eingriffe
ermutigt werden, ohne daß Arzt und Patient diesen Vorgang verstehen."
Bemerkung: Adler
trat 1911 aus Wiener Psychoanalytischen Vereinigung aus und gruendete
den "Verein fuer freie psychoanalytische Forschung", der 1913 in "Verein
fuer Individualpsychologie" umbenannt wurde. Inzwischen gibt es so viele
psychoanalytische Schulen wie es AnalytikerInnen gibt2).In
Brunner et al. (1985) "Wörterbuch der Individual-Psychologie"
wird unter dem Stichwort Homosexualitaet fast ausschliesslich Adler zitiert
- als ob die Zeit stillgestanden haette.
Jung & Jungsche
AnalytikerInnen. Im "Woerterbuch Jungscher Psychologie" (Samuels, A.
et al. dt. 1991, orig. 1986, S. 97) wird ausgefuehrt: "Jung bezweifelte
zwar die Bewertung der Homoseualitaet als sexuelle Perversion, hielt sie
aber wohl fuer eine unreife oder unvollstaendige Form erotischen Ausdrucks."
Neuere und andere AutorInnen werden gar nicht erwaehnt. Auch in diesem
"Woerterbuch" scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Andere Jungianer
haben inzwischen fortschrittlichere Arbeiten vorgelegt, so P. Schellenbaum
(1989, 1994), und besonders R. H. Hopcke, selbst Jungianer und Homosexueller.
Bemerkung: Jung wandte sich 1913 von Freud
und dessen Psychoanalyse ab. Inzwischen gibt es so viele psychoanalytische
Schulen wie es AnalytikerInnen gibt.2)
Neo-
und humanistische Psychoanalyse
Die neo- und humanistsiche Psychoanalyse ist die am weitesten entwickelte;
sie hat das ganze Freud'sche Werk am konsequentesten und radikalsten weiterentwickelt,
insbesondere was die diskriminierenden Kategorisierungen betrifft. Da die
Psychoanalyse aber ueber kein empirisch- experimentelles wissenschaftliches
Selbstverstaendnis verfuegt, gibt es auch hier wieder so viele Lehren und
Schulen wie es es AnalytikerInnen gibt.2)
American Psychoanalytic
Association und Socarides,Ch. (1968, 1971, 1978), der Berichterstatter
fuer klinische und therapeutische Aspekte offener maennlicher Homosexualitaet
der American Psychoanalytic4) Association
hat noch in der juengsten Zeit seine voellig Menschen verachtenden und
unwissenschaftlichen persoenlichen Vorurteile und Entwertungen quasi als
offizieller Vertreter amerikanischer psychoanalytischer Lehrmeinung vortragen
koennen. Im Journal of the American Medical Association verurteilte er
die Homosexualitaet als
"eine furchtbare Fehlfunktion, ihrem Wesen nach boesartig, die sich inzwischen zu einer epidemischen Seuche ausgewachsen hat."5) |
Neuere
und angemessene psychoanalytische Lehren
Eine neuere und differenzierte Betrachtung der Homosexualitaet wurde
von Peter Kutter (in: Kutter, Loch, ... 1983) im deutschen Sprachraum
vorgelegt, indem das Kapitel Homosexualität aus dem Kapitel
Sexuelle
Devianz (Perversionen) ausgelagert und eigenständig organisiert
wurde. Merkwürdig mutet jedoch an, daß der psychoanalytische
Homosexuellenfanatiker Socarides (S. 260) positiv zitiert wird. Voellig
aufgeraeumt mit den weit verbreiteten psychoanalytischen Fehlleistungen
und menschen-verachtenden Diskriminierungen hat der amerikanische Arzt
und Psychoanalytiker R. A. Isay (dt. 1989, orig. 1989). Die Mehrheit
der konservativen PsychoanalitikerInnen - Zeitbasis Jahrundertwende hat
von dieser Entwicklung anscheinend wenig mitbekommen. In Deutschland scheinen
sie mehr um Punktwerte besorgt und wie man unliebsame Konkurrenz ausbootet.
(Wird unregelmaessig ergänzt Entwicklungsversion 3 vom 6.9.01 nach 2 vom 29.6.1998)
Adler, A. (11930, 1977). Benjamin, J. (dt. 1993, orig. 1988). Boss, M. (31966). Brunner, R., Kausen, R., Titze, M. (1985, Hg.). Caprio, F.S. (o.J.). Carrera, M. (dt. 1982, orig. 1981). Fenichel, O. (dt. 1974, orig. 1945). Fenichel, O.. (1931, 1974 Neudruck). Fenichel, O. (orig. 1931, Neudruck 1976). Freud, S. (). Freund, K. (1969). Friedman, R. C. (1988). Frings, M. & Kraushaar, E. (1982). Grau, G. (1993). Grossmann, T. (1982). Hirschfeld, M. (1914, 21920). Hopcke, R. H. (1993). Isay, R. A. (dt. 1990, orig. 1989). Krafft-Ebing, R.v. (151918). Lautmann, R. (1977, Hg.). Lautmann, R. (1993, Hg.). Linnhoff, U. (1976). Masters, W. H., Johnson, V. E. (dt. 1973, orig. 1970). ; (1979); . (dt. 1993 TB, orig. 1985). Rattner, J. (1970). Samuels, A., Shorter, B., Plaut, F. (dt. 1991, orig. 1986). Schellenbaum, P. (1980). Schellenbaum, P. (1994). Siems, M. (1980). Sigusch, V. (1975, Hg.). Socarides, Ch. (dt. 1971, orig. 1968, neu 1978). Stekel, W. (31923). Stoller, R. (dt. 1979, orig. 1975). Till, W. (1993). Winarski, R. (1993).
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