von Irmgard Rathsmann-Sponsel und Rudolf Sponsel, Erlangen
1. Kalendarisch an Jahren zunehmen
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Aber was heißt altern eigentlich genau? Nun, altern bedeutet kalendarisch (1) zunächst nur eine höhere Anzahl an Lebensjahren. Altern bedeutet (2) daß man uns gewöhnlich unser Altern äußerlich ansieht. Altern bedeutet (3) daß wir in manchen Funktionen und Bereichen nicht mehr ganz so gut, so leicht oder so schnell funktionieren wie in früheren Zeiten. Altern bedeutet (4) aber auch, daß sich einige Funktionen sehr stark verbessern können, z. B. Umsicht, Vorsicht, Weitsicht; der Blick für das Wesentliche, worauf es ankommt, Gelassenheit, Geduld, Erwerb von Routinen, Fertigkeiten und Fähigkeiten, sowohl Güte und Verständnis als auch Konsequenz und Standfestigkeit, Funktions-Minderungs-Kompetenzen (Umgang mit und Bewältigung von Mißerfolg, Niederlagen, Einbußen, Verlusten). Ältere Menschen verfügen meist über ein großes Potential von sog. „Coping" = Bewältigungs- Strategien". Altern bedeutet (5) gewöhnlich auch ein mehr an Erfahrungen und Erlebtem und all den positiven Möglichkeiten, die sich hieraus ergeben können. (6) Die seelisch-geistige Erlebnisfähigkeit verändert sich meist nicht. Und seelisch-geistig kann sich ein kalendarisch und äußerlich alternder Mensch noch genauso jung wie vor 20, 30, 40 Jahren fühlen. Dazu gehört schließlich (7) auch die Stetigkeit des Identitätsgefühls: obwohl ich mich seit meiner Geburt ständig verändere, obwohl ich am nächsten Tag nie mehr genau der gleiche Mensch wie gestern bin, fühle ich mich immer als ein und derselbe Mensch und in diesem inneren Erleben meist auch nicht als alt, sondern zeitlos als immer derselbe. „Ich bin ich". Das Identitätserleben kann bei manchen psychiatrischen Erkrankungen oder im Spätstadium der Alzheimerschen Krankheit gestört sein: ich weiß dann nicht mehr, wer ich bin oder daß ich ich bin (>Selbst, Ich).
Jungen oder jüngeren Menschen erscheinen wir zwar kalendarisch und äußerlich zurecht als älter oder gealtert. Was die Jungen oft nicht wissen ist, daß ein kalendarisch und äußerlich gealterter Mensch sich vom Erleben, seinen Wünschen, Bedürfnissen und Interessen her überhaupt nicht von ihm unterscheiden muß und meist auch gar nicht unterscheidet. Im funktionellen Altern (z. B. hören, sehen, bewegen, gesund sein, tun und lassen können, fähig sein, können, ...) gibt es hierbei sehr große Unterschiede und eine riesige Spannweite der Möglichkeiten.
Welche Bedeutung können nun die Funktionsminderungen, z. B. beim wahrnehmen, sehen, hören, merken, lernen, bewegen, selbständig seine Angelegenheiten besorgen können, kräftig und gesund sein, haben? Auch wenn im Straßenverkehr z. B. die Reaktionsgeschwindigkeit nachläßt, so bleiben diese Funktionsminderungen weitgehend ohne Bedeutung.
Querverweis (Statistik aus 2008): Allianz Unfallstudie Senioren am Steuer - besser als ihr Ruf. |
1) Es
ist ein großes Vorurteil, daß Ältere im Straßenverkehr
gefährlicher sind als Jüngere. Das Gegenteil ist
der Fall wie sämtliche korrekt durchgeführten Statistiken
zeigen. Erst ab 75 steigen die Werte in besonderen Merkmalen
Vorfahrtsfehler) wieder an.
Lit: Kaiser, H. J.; Oswald, Wolf D. (1999). Altern und Autofahren. Bern: Huber. |
Es kommt also nicht so sehr darauf an, ob Funktionsminderungen eintreten, sondern was sie bedeuten: ob und wie man sie ausgleichen kann. Sehe ich schlecht, kann ich eine Brille benutzen. Gehe ich schlecht, kann ich einen Stock verwenden. Höre ich schlecht, kann ich ein modernes Hörgerät, das man kaum bemerkt, für den Ausgleich nehmen. Hören können kann sehr wichtig sein, weil man sonst im Laufe der Zeit mißtrauisch und argwöhnisch werden kann, was zu Reizbarkeit, Verstimmungen und sozialer Isolation führen kann (was paranoide = wahnhafte Entwicklungen nocht mehr fördert).
Viele Funktionsminderungen im Alter lassen sich durch Hilfsmittel oder entsprechendes Verhalten ausgleichen („kompensieren"). Trotzdem: Unser Körper und unsere äußere Erscheinung zeigen Spuren und nichts scheint oft lächerlicher, als wenn der alternde Mensch krampfhaft zu verbergen oder zu kaschieren versucht, daß er eben sein Alter hat. Das eben ist die Kunst des Alterns: die Realität des Alterns einerseits anzuerkennen und andererseits seine Möglichkeiten an Lebensqualität und Lebensfreude seinem Altern anzupassen, auch wenn sich manche leichter tun, besser damit zurecht kommen, weniger Einbußen an Funktionsminderungen und Lebensqualität haben, länger leben, gesünder und weniger anfällig bleiben.
Stellt man sich vor, ewig zu leben, so macht diese Vorstellung uns im Grunde nur dann Freude, wenn wir damit grundlegende Funktionstüchtigkeit, oft bedeutet das Beweglichkeit, Bewußtheit, Erlebnisfähigkeit, Freiheit von Schmerzen und allzu üblen Krankheiten meinen. Aber alles Leben ist zum Tode bestimmt. Und nicht wenige erleiden die letzten Jahre erhebliche Funktionsminderungen, verlieren Beweglichkeit, Bewußtheit und ihre Erlebnisfähigkeit. Denkt man die zunehmenden Funktionsminderungen konsequent durch, so steht am Ende Siechtum und vollständige Pflegebedürftigkeit. Würde der Mensch 1000 Jahre alte, so würde er die letzten 900 Jahre wahrscheinlich im Krankenhaus oder auf einer Pflegestation verbringen. Mit Leben verbinden wir aber grundsätzliche Funktionstüchtigkeit, meist Beweglichkeit, Bewußtheit und Erlebnisfähigkeit. Werden diese Grundfunktionen zunehmend eingeschränkt, so verknüpfen wir damit einen mitunter erheblichen Verlust an Lebensqualität: das Leben macht uns dann weniger bis kaum noch Freude, ja manche sehnen sogar ihren Tod herbei, den sie als Erlösung empfinden. Eine Erlösung ist er aber meist nur dann, wenn er innerlich angenommen wird, weil das Leben allzu mühselig geworden ist und vielfach nicht mehr so lebenswert erscheint. Es heißt, daß sich diejenigen leichter tun mit dem Sterben, die ihr Leben gelebt haben, als ob man sich leichter verabschieden könnte, wenn man etwas von seinem Leben gehabt hat. Nun, zur Kunst des Alterns und des Sterbens gehört also auch, sein Leben als lebenswert zu empfinden, zu beurteilen und zu bewerten. Und hier haben wir alle viel Freiheit: was immer auch andere von meinem Leben denken oder meinen mögen, ich selbst habe es in der Hand (genauer: im Geist :-) ), zu meinem Leben, wie ich es gelebt habe, ja zu sagen (wie etwa Edith Piaf in einem Chanson trotzig lebensbejahend singt: „Ich bereue nichts, weder das Gute noch das Schlechte ..."). Ich muß mich nicht mit anderen vergleichen, hadern und neidisch sein. Ich habe die Freiheit zu sagen, ich habe das Beste aus meinem Leben zu machen versucht, was ja für die meisten Menschen richtig ist, wenn man sich in ihre Anlagen, in ihre Herkunft und in ihre Möglichkeiten einfühlt. Wer festhält an scheinbar verpaßten Möglichkeiten, wer nicht loslassen kann und hadert, wird sich schwer tun mit dem Altern und schwer tun mit dem Sterben. Das Unausweichliche und Unabänderliche annehmen können, ist eine hohe Form des Freiheitserlebens. Es macht gelassen und kann sogar bei besonderen Alterungs- und SterbekünstlerInnen eine milde philosophische Heiterkeit bewirken. Mit einem Lächeln altern können, ist daher eine hohe Lebenskunst, die auch dazu befähigen kann, mit einem Lächeln Abschied zu nehmen. Ist das nicht eine überlegens- und lohnenswerte Haltung? Wie immer ich auch gelebt habe, ich habe die Freiheit, die mir niemand nehmen kann, mein Leben anzunehmen. Darauf kommt es an. Das Ja zum eigenen Leben kann Sterben und Tod sehr erleichtern.
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